[386] Christenthum. Kein Volk lebt ohne Religion. Denn Religion ist nichts Anderes als das unsichtbare Band, welches den Menschen mit Gott verbindet. Schon durch das Anschauen der Natur mit ihren tausendfachen Offenbarungen, schon durch das Gewissen wurde ein solches Band geknpft. Liebe und Furcht, Wnsche und Dank trieben die Menschen schon vor Jahrtausenden an, einem groen unsichtbaren Wesen zu dienen. Ihm erbauete man Altre, ihm rauchten die Opfer, ihm dampfte Thier- und Menschenblut. Mochte man immerhin mehrere gttliche Wesen verehren, ja, mochte man deren so viele annehmen, als uere, krftige Wirkungen in der Natur sich regten, ein Band doch war geschlossen mit den unsichtbaren Mchten, man liebte und glaubte, man hoffte und frchtete. Auf eine hhere Stufe trat in dieser Hinsicht der denkende Geist des Menschen durch den israelitischen Glauben. Nur einen G ott nahm man jetzt an; aber nicht als einen Gott fr Alle erkannte man ihn, man hielt ihn nur fr einen Nationalgott, nur fr den Gtt der Israeliten. Die Morgenrthe am innern, geistigen Himmel der Menschen hatte begonnen. Hher und immer hher stieg aus der Morgenrthe die Feuersonne, Christus erschien. Nun wurde es Tag, voller Tag. Nun gab es. Licht und Glanz und Herrlichkeit. Nun schlugen die Herzen frei,.nun sahen die Augen hell, denn allen Zwang und jede Binde lste der Herr. Alle Scheidewnde fielen. Er verkndete Allen nur einen Gott, der Allen ein liebender Vater ist. Er[386] zeigte den Menschen Weg und Ziel: ewiges Leben durch Liebe. Und das ist die innerste, tiefste Bedeutung des Christenthums. »Liebe Gott ber Alles, und deinen Nchsten als dich selbst;« das war daher das Grundgesetz, welches Christus predigte, gewaltig und doch sanft, kurz, und doch fr alle Zeiten. Denn nicht fr ein Jahrhundert nur, so lange die Erde steht, so lange noch Menschenherzen schlagen und Menschenaugen den Himmel anschauen, wird seine Lehre giltig sein, weil sie unentbehrlich ist. Einsa ch und doch rein und wahr und gttlich: ist sie geeignet, die Bedrfnisse des Herzens aller Vlker zu allen Zeiten zu befriedigen, ist geeignet, dazustehen als Weltreligion. Und nicht untergegangen ist daher die Lehre, die der Gottmensch stiftete, die er durch seinen Wandel besttigte, durch seinen Tod besiegelte und verherrlichte. Schon im 4. Jahrhundert wurde das Christenthum zur Staatsreligion erhoben. Als solche hat es sich immer behauptet. Da aber diese Religion der Liebe sehr oft zur Quelle des Streites und der Zwietracht wurde, lag nicht an ihr, sondern an den Menschen.
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