Norbert Bolz:
Space of Flows – Space of Places

I. Space of Flows – Space of Places

Eine stabile wissenschaftliche Grundlage für das Konzept Flow-Control findet man in Ludwig von Bertalanffys Theorie des „Fließgleichgewichts“. Die immer noch erstaunliche Einsicht, um die es hier geht, lautet: Ein offenes System kann als ganzes konstant bleiben, obwohl seine Bestandteile sich in permanentem Flow befinden. Alles fließt und ist doch stabil. Es gibt Kohärenz im Wandel, und zwar ohne zentrale Lenkung. Der Begriff des Fließgleichgewichts denkt also Wartung und Wandel, Bewahrung und Konflikt zusammen. Wir sind hier in der Welt des dynamischen Gleichgewichts und der Selbstorganisation – also in unserer globalisierten Welt!

Der Edelmarxist Manuel Castells hat zur Beschreibung der globalisierten Welt eine interessante Unterscheidung vorgeschlagen: den „space of flows“ und den „space of places“. Der Space of Flows ist global, geprägt vom Kapital, durch Netzwerke verknüpft – und zwar nach der Logik der „strength of weak ties“ (Granovetter). Dagegen ist der Space of Places lokal, geprägt von traditioneller Arbeit und der Sehnsucht nach Identität, Bindung.

Der Raum der Flows wird von den internationalen Geld- und Informationsströmen mit ihren Verkehrsknoten und Großflughäfen gebildet. Hier leben die Erfolgreichen, die kosmopolitischen Netzwerker. Jeder kennt die charakteristische Architektur des Flows: Flughafen, Bahnhöfe, Transitzonen, Hafen, Service-Center, Börsen, Hotelketten. Hier wird am Netzwerk des geschäftlichen Erfolgs gearbeitet, ohne Sinn für den konkreten Ort. Im 21. Jahrhundert wird deshalb die Soziallust der mobilen Kommunikation der wichtigste Produktivitätsfaktor sein.

Demgegenüber ist der Raum der Orte konservativ. Im Französischen unterscheidet man bekanntlich zwischen „le lieu“ und „la place“. Die Stätte ist eben nicht nur eine Stelle. Das Sein protestiert gegen die Funktion. Nicht theoretisch, sondern lebenspraktisch gibt es ein Unbehagen am Funktionalismus. Man sucht wieder Substanz, Symbol, Sinn, Identität. Der Raum der Orte wird von Herkunftsorten wie Bottrop, Enklaven wie dem Theater, Unorten wie der Shopping-Mall, aber auch von Kultorten wie Prenzlauer Berg gebildet. Hier finden wir die Verlierer, die Entschleuniger, aber auch all diejenigen, die eine humane Kompensation für die Zumutungen des „digitalen Kapitalismus“ (Peter Glotz) suchen.

II. Softnomics

Globalisierung heißt: unbegrenzter Güter-, Kapital- und Informationsfluss. Nichts ist abstrakter als elektronische Finanztransaktionen. Seit es die elektronische Datenverarbeitung gibt, werden sich Geld und Information immer ähnlicher. Das bedeutet aber, dass die Finanzmärkte der wichtigste Schauplatz für die Kommunikationstechnologien des 21. Jahrhunderts sind: Geldfluss und Datenfluss werden ununterscheidbar.

Es geht also im Wirtschaftsleben gar nicht mehr vorrangig um ein Haben bzw. um Bedürfnisse, sondern um eine besondere Form von Kommunikation. Deshalb interessieren sich Geschäftsleute bei innerbetrieblichen Bilanzen auch nicht für die absolute Kapitalgröße einer Firma, sondern für deren Beziehung zum „cash flow“, einer dynamisch sich in der Zeit verändernden Flussgröße, die sich aus Gewinn, Abschreibung und Rückstellung zusammensetzt.

Die grundsätzliche Abstraktheit von Geldgeschäften wird durch die Netzwerke des Internets noch erheblich gesteigert. Man spricht heute in diesem Zusammenhang von Softnomics und meint damit die neue Computerwirklichkeit des Welt-Geldes. Mit unseren Kreditkarten schalten wir uns ins Nervensystem der Weltwirtschaft ein. Und diese Plastikkarten werden immer smarter, d. h., sie verschränken den Geldfluss mit dem Informationsfluss. Mit Recht hat Alvin Toffler deshalb das Geld der postmodernen Welt als supersymbolisch bezeichnet.

Man könnte daher sagen: Auf der obersten Wirtschaftsebene gibt es Geld nur noch im Aggregatzustand von weltumspannenden Datenflüssen – also in den Computern der Finanzmetropolen. Täglich werden annähernd 1000 Milliarden Dollar umgeschlagen. 90 % der Finanztransaktionen an den Weltbörsen haben aber mit dem wirklichen Warenfluss nichts mehr zu tun. Das ist der schlichte wirtschaftstechnische Hintergrund der Großen Krise von 2008.

III. Don’t worry, be crappy

Schauen wir uns den Raum der Flows ein wenig genauer an, um etwas über die Techniken eines erfolgreichen Lebens zu lernen. Im Raum der Flows herrscht eine rein zeitliche Ordnung, nämlich durch Fristen und Terminierungen. Unter Bedingungen der Veränderungsbeschleunigung muss man nämlich wählen, was rasch geht. Deshalb hat die Effizienz Vorrang vor der Vertiefung, Geschwindigkeit ist wichtiger als Genauigkeit. Was gilt, gilt nur bis auf Weiteres; was gut gemacht ist, ist immer nur gut genug. Nietzsches „Liebe zu den kurzen Gewohnheiten“ wäre eine schöne poetische Formel für diese provisorische Moral des Flow-Raums.

In der Prosa der Soziologie heißt das: vorübergehende Anpassung an vorübergehende Lagen. Man kann es auch einfacher sagen und von Trendorientierung sprechen. Denn der Trend ist eine vorübergehende Gewissheit. An die Stelle der Vernunft tritt das Sich-Durchwursteln – mit der schönen ironischen Formulierung von Charles Lindblom: „The Science of ,Muddling Through‘“. Was man nicht ändern kann, kann man immer noch voraussagen. Was man nicht meistern kann, kann man immer noch verstehen.

Sich durchwursteln und mit dem Strom schwimmen – das sind Formen der sekundären Kontrolle durch Anpassung. Flow Control heißt nämlich immer auch: kontrollieren, was man nicht versteht. Wir haben es im Raum der Flows zunehmend mit Problemen zu tun, die weniger Lernbereitschaft als vielmehr die Freude am Spielen fordern. Im Cyberspace gibt es keinen Unterschied zwischen Werkzeug und Spielzeug.

Spielen statt lernen – das klingt für denkfaule Menschen natürlich verlockend, doch dahinter steht eine neue Form von Rationalität. Samuel Popkin hat sie „low-information rationality“ genannt. Erfolgreiche Menschen arbeiten nach dem Prinzip der minimalen Information, d. h., sie sind immer nur dann bereit zu lernen, wenn es nicht mehr weitergeht. Statt nach der Wahrheit zu suchen, vertrauen sie dem Wettbewerb der Informationsquellen. Simple Heuristiken, Stopp- und Faustregeln machen deutlich, dass wir es „so genau“ gar nicht wissen wollen dürfen. Und genau das macht Entscheidungen zu Entscheidungen: das Risiko der nicht ausreichenden, sondern minimalen Information.

Von dem Philosophen Plessner stammt die schöne Definition „Praxis heißt gerade das Fertigwerden mit den Dingen im Medium des flüchtigen Ungefährs“. In der amerikanischen Übersetzung von Guy Kawasaki lautet dieser Satz: „Don’t worry, be crappy.“ Man macht es nicht mehr perfekt, sondern gut genug. Die Lösung ist nicht optimal, sondern befriedigend. Denn nur so kann man rechtzeitig sein. Alles Wesentliche gilt heute bloß noch zeitlich begrenzt. Mit anderen Worten: Alles ist „vorläufig definitiv“ (Robert Musil). Und das setzt eine Kultur der Fehlerfreundlichkeit und Risikobereitschaft voraus.

IV. Business als Lebensstil

Wenn wir von Risiko sprechen, betrachten wir eine gefährliche Situation als kontrollierbar. Und das Gefühl, eine gefährliche Situation in der Hand zu haben, ist gewiss eine der höchsten Formen von Lebensfreude. Man erfreut sich wohlgemerkt nicht der Gefahr, sondern der eigenen Fähigkeit, damit umzugehen. Das war das große Thema des Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi. Dass er die Erfahrung souveräner Kontrolle Flow genannt hat, provoziert natürlich die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen der rasanten Dynamik von Geld- und Informationsströmen, der Optionsfülle, den Entscheidungskaskaden der modernen Welt und der Lebensfreude jener optimalen Erfahrung geben kann.

Die Antwort auf diese Frage lautet: Den Flow der Information kann man nur durch den Flow der Absorption kontrollieren. Flow im Sinne von Csikszentmihalyi heißt, von dem, was man tut, absorbiert zu sein. Mit den Worten des amerikanischen Dichters Donald Hall: „Absorbedness is the paradise of work.“ Die höchste Konzentration der Aufmerksamkeit, in der ich mich selbst transzendiere, gestaltet das Leben. Das funktionierte immer schon bei genialen Künstlern und großen Wissenschaftlern, heute erleben das vor allen Dingen aber erfolgreiche Geschäftsleute. Sie haben das Business als Lebensstil geprägt.

Business als Lebensstil – das hat mit unserer traditionellen Vorstellung vom Beruf nichts mehr zu tun. Gemeint ist Arbeit als ernstes Spiel, als harter Spaß. Business als Lebensstil wird praktiziert von einem neuen Typus, dem Trendforscher so sprechende Namen wie „Flexist“ oder „Chaospilot“ gegeben haben. Charakteristisch für sie ist ein positiver Opportunismus, der sich durch ständige Erreichbarkeit und unbegrenzte „Anstellbarkeit“ auszeichnet. Der positive Opportunismus nimmt also Abschied vom Prinzipiellen. Charles Handy hat für diesen Lebensstil den Ausdruck „portfolio living“ geprägt.

Für erfolgreiche Leute gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Arbeitszeit und Freizeit. In der Arbeit geht es nicht um Bedürfnisse, sondern um Freude.

Wer Business als Lebensstil praktiziert, kann mit „Freizeit“ genauso wenig anfangen wie der echte Künstler, der wahre Wissenschaftler oder der Vollblutpolitiker. Wir wissen jetzt, warum: Arbeit macht genau dann Freude, wenn der psychische Flow den informationellen Flow kontrolliert. Man muss sich den Workaholic als glücklichen Menschen vorstellen.

Die moderne Lebenskunst besteht darin, im Ungewissen zu existieren – und sich dort zu engagieren („commitment“) und zu konzentrieren („focus“). Wer sich auf die eigene Spannkraft, auf die eigene Geistesgegenwart verlassen kann, hat ein positives Verhältnis zu Risiko, Ungewissheit und überraschenden Gelegenheiten entwickelt. Für den positiven Opportunismus, der dafür nötig ist, hat Friedrich von Hayek ein schönes altes Wort wiederentdeckt: „Findigkeit“. Wo kann ich meine Fähigkeiten am effektivsten einsetzen? Es geht hier genau um das, was Joseph Schumpeter das „Unternehmermoment“ genannt hat. Jeder, der den besten Gebrauch seiner Fähigkeiten entdeckt, ist ein Unternehmer.

Es gibt ein deutliches Zeichen dafür, dass meine „Findigkeit“ das „Unternehmermoment“ entdeckt hat, nämlich das starke, glückliche Gefühl, das man die geistige Lust der Virtuosität nennen könnte: Ich bin in Bestform, ich mache meine Sache gut. Es gibt keinen Grund zur Sorge. Keine Information steht in Konflikt mit meinen Absichten, und keine Information lenkt mich ab. Man kennt das von guten Schachspielern, Komponisten oder Chirurgen. Aber auch ganz normale Leute erleben das manchmal beim Klettern oder Tanzen: „focus“ + „commitment“. Es gibt keinen Flow ohne Herausforderung. (Das Gegenteil von Flow ist Fernsehen.)

V. Selbstkontrolle statt Systemkontrolle!

Durch Csikszentmihalys Konzept der optimalen Erfahrung ist deutlich geworden, dass Flow Control Selbstkontrolle statt Systemkontrolle heißen muss. Um mit der Komplexität der Informationen zurechtzukommen, brauchen wir ausreichende Eigenkomplexität. Es gehört zu den großartigsten Einsichten jener Psychologie der optimalen Erfahrung, dass sich Freude von bloßer Lust dadurch unterscheidet, dass sie Komplexität aufbaut. Und die Eigenkomplexität des Menschen – früher hätte man Seele gesagt – speist sich aus ganz anderen Quellen als die Systemkomplexität der Information, nämlich aus Ideen und Geschichten.

Ideen haben nichts mit Information zu tun. Das lässt sich immer dann sehr gut erkennen, wenn jemand versucht, Konfusion durch Infusion von mehr Information zu beheben. Wer orientierungslos ist, wird durch ein Mehr an Informationen nur noch verwirrter. Hier helfen nur Ideen weiter – oder Geschichten. Natürlich bieten auch Geschichten Information, aber im Kontext und koloriert von Emotion. Deshalb kann man Geschichten nicht algorithmisieren.

Echte Probleme kann man nicht lösen, sondern nur managen. Das unsere lautet Information-Overload. Immer mehr wissen wir immer weniger, und über immer mehr wissen wir immer weniger. Das einzig Nachhaltige ist die Ungewissheit. Beschleunigung und Informationsüberlastung sind die modernen Formen der Reizüberflutung. Man kann es auch so sagen: Das zentrale Problem der digitalen Kultur ist der Flaschenhals Mensch. Immer mehr Menschen verzweifeln an der Aufgabe, die eigene Aufmerksamkeit zu managen. Dabei geht es um die so einfach klingende Frage: Was ist wirklich wichtig? Um hier überhaupt zu einer Antwort zu kommen, müssen wir Komplexität reduzieren. Auf der Suche nach Orientierung bieten die neuen Medientechniken Filter, aber am Ende geht es doch um die menschliche Urteilskraft. Das kann man am neuen Wahrnehmungsstil des Zappings sehr gut studieren.

Das Problem des Information-Overload ist alt. Und wie wir damit umgegangen sind, war immer von den Leitmedien einer Epoche bestimmt. Wir können sieben („the magical number seven!“) Epochen der Mediengeschichte unterscheiden: Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Buchkultur, Massenmedien, Digitalisierung, Vernetzung und BANG_Design. Alles beginnt in der Vorgeschichte mit der Mündlichkeit und der allmählichen Entwicklung ihrer Technik der Rhetorik. Eine erste Zäsur in der Mediengeschichte markiert die Erfindung der Schrift – und hier melden sich schon die ersten medienkritischen Stimmen: Platon! Schriftlichkeit mündet dann in die Form des Buches. Aber erst das gedruckte Buch der Gutenberg-Galaxis markiert die zweite Zäsur der Mediengeschichte.

Eigentlich beginnt mit dem gedruckten Buch schon die Ära der Massenmedien, aber wenn wir heute von Massenmedien sprechen, meinen wir natürlich Zeitungen, Zeitschriften, den Rundfunk und vor allem das Fernsehen. Sie sind für uns heute aber keine neuen Medien mehr. Denn zwischen den Massenmedien und der Gegenwart liegt die große Zäsur der Digitalisierung. Die Erfindung des Computers lässt sich in ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung tatsächlich nur mit der Erfindung der Druckerpresse vergleichen. Und in den letzten Jahren konnten wir eine Verschiebung des Interesses von der Informationsverarbeitung zur Kommunikation beobachten: Auf die Digitalisierung folgt die Vernetzung. Auch die finale Etappe lässt sich schon gut beschreiben: BANG_Design, das Being Digital, das Verschwinden des Computers in seiner Allgegenwart.

Unsereins ist in der Gutenberg-Galaxis aufgewachsen, aber seit mindestens drei Jahrzehnten einer digitalen Kultur ausgesetzt, die von ihren Vordenkern nach dem wahren Erfinder des Computers „Turing-Galaxis“ genannt wird. Das Buch hat unseren Geist geformt; der Computer formt den unserer Kinder. Orientierung haben wir uns in der Gutenberg-Galaxis von Büchern versprochen. Deshalb war die Kunst des Lesens die eigentliche Lebenskunst. Doch was heißt lesen heute? In Websites kann man sich nicht versenken, und die „Immersion“ in virtuelle Welten hat nichts zu tun mit dem alten Seelenabenteuer des Lesens. Das ist nicht als Werturteil gemeint. Kultur ist ein Nullsummenspiel. Produziert digitales Lesen digitale Gehirne? Wir müssen darüber gar nicht spekulieren. Es genügt, einzusehen, dass das Leitmedium einer Kultur ihren Geist prägt.

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