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Die letzten freien Menschen

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Zirkusfamilie (von links): Roswitha Feix, Marcel (6), Heidi, Monique (2), Adi, Joel (11) und Gilbért (17) Fletterer.
Zirkusfamilie (von links): Roswitha Feix, Marcel (6), Heidi, Monique (2), Adi, Joel (11) und Gilbért (17) Fletterer. © Kempf Fotodesign

Parallelwelt nebenan: Auf einem vier Hektar großen Gelände im Norden Frankfurts sind seit Jahrzehnten Zirkusleute, Schausteller und Schrotthändler mit ihren Familien zu Hause. Ein Biotop bundesrepublikanischer Geschichte. Wie leben die, mit denen viele noch immer nichts zu tun haben wollen?

Dieter Gärtner ist ein vorsichtiger Mensch. Er hat allen Grund dazu. „Fotos, muss das sein?“, fragt er. Dieter Gärtner ist 80 Jahre alt. Es ist ein Wunder, dass er seine Kindheit überlebt hat. Heute hat sich der schlanke, drahtige Mann ein kleines Paradies aufgebaut, ein Häuschen im Grünen, wenn man so will. Besucher empfängt er auf einer niedrigen Treppe. Wer zu Dieter Gärtner will, muss an ordentlich aufgereihten Geranientöpfen vorbei. „Schön haben Sie es hier“, sagen die meisten Gäste mit einem anerkennenden Rundumblick. Aber Fotos? „Na gut, wenn es sein muss“, sagt Gärtner, dem ein Unfall das Augenlicht genommen hat, und postiert sich zögerlich auf der Treppe. „Dann machen Sie halt. Aber machen Sie schnell.“

Die Nazis haben viele Fotos von ihm gemacht. Von ihm, dem „Zigeunerjungen“.

Anfang der 1940er Jahre wurden Dieter Gärtner, sein Bruder Horst und die Mutter Rosanda Gärtner auf einer Liste durchgestrichen. Es war eine Liste mit Namen von Menschen, die in ein Konzentrationslager deportiert werden sollten. Weil eine Sozialfürsorgerin der alleinerziehenden Rosanda Gärtner einen „Lebenswandel in tadelloser Ordnung und Sauberkeit“ attestierte, durfte ihre Familie leben. Rosanda Gärtner hatte den Vater ihrer Kinder wegen der Rassegesetze nicht heiraten können – er war Sinti. Bereits 1938 wurde er „aus politischen Gründen einem Konzentrationslager zugeführt“, so steht es auf einer offiziellen Bescheinigung, mit der Rosanda Gärtner 1945, damals 33 Jahre alt, als Opfer des Faschismus anerkannt wurde. Bis heute hat Dieter, ihr Zweitjüngster, sie aufbewahrt, in dem kleinen Häuschen hinter den Geranientöpfen. Auch das Schreiben der Sozialfürsorgerin hat er nie weggeworfen. Die Zeilen, die ihm das Leben gerettet haben, wurden auf einer Schreibmaschine getippt. Die Buchstaben sind kaum verblichen.

Großes Leid haben die Nazis trotzdem über die Familie gebracht. Drei Geschwister von Dieter Gärtner und einige Kusinen haben nationalsozialistische Ärzte zwangssterilisiert. „Zigeuner“ sollten ja keine Nachkommen haben. „Ohne Betäubung, denn die Narkosemittel wurden ja für die Soldaten gebraucht“, sagt Gärtner, seine Stimme zittert. Als kleiner Junge war er dabei, wenn die Mutter die Geschwister auf der Zugfahrt zu den Behandlungen begleitete. Dieter Gärtner blieb verschont. Er hat heute drei Kinder und mehrere Enkelkinder. Die Wände seines Wohnzimmers hängen voller Fotos: Neugeborene in rosa oder hellblauen Stramplern, stolze Schulanfänger, schlaksige Heranwachsende.

Dieter Gärtner ist der älteste Bewohner auf dem Wohnwagenplatz an der Bonameser Straße im Frankfurter Norden. Er ist nicht der Einzige, der Traumata mit sich herumträgt, deren Auslöser zum Teil viele Jahrzehnte zurückliegen. Sein Vater handelte mit Alteisen, er selbst und seine Brüder wurden Schrotthändler und Automechaniker, viele seiner Nachbarn sind Schausteller. Bis heute sind diese Arbeiten die Haupteinnahmequellen der Menschen, die hier leben. Hier „auf dem Platz“, wie sie sagen. Den „Platz“ gibt es seit 1953. Zwischen Bungalows und Bauwagen stehen Lastwagen neben den bunten Fassaden von Jahrmarktbuden, auch Karussells lagern hier. Viele Familien verdienen seit Generationen Geld mit beidem: Jahrmarkt, wenn Saison ist, dazwischen Entrümpelungen.

Wer erstmals zu Besuch auf den Platz kommt, dem schlägt Misstrauen entgegen. Türen werden geschlossen, Köpfe geschüttelt. Fragen beantworten? Leute mit Schreibblock oder Kamera in der Hand ins Haus lassen? Besser nicht. Doch wer mehrmals kommt und behutsam fragt, hört Geschichten. Geschichten, die kaum erzählt werden und nie aufgeschrieben wurden. Es sind Geschichten von Diskriminierung und Ausgrenzung – aber auch von einer ganz eigenen Art von Leben. Es sind Kriegsgeschichten und Nachkriegsgeschichten, Geschichten aus der alten Bundesrepublik und aus den Wirtschaftswunderjahren. Geschichten, die sich unterscheiden von denen, die die meisten anderen Deutschen aus dieser Zeit erzählen. Es sind Geschichten vom Unterwegssein. Vom Zuhausesein. Und vom Freisein.

Die Freiheit im Jahr 2017, das ist ein Plastiktraktor auf einem ungemähten Rasenquadrat. Ohne Zaun. Ein Junge steigt auf, tritt kräftig in die Pedalen, hoppelt mit dem schwergängigen Gefährt einen Weg voller Kieselsteine entlang, steigt ab. Auf Pusteblumen muss gepustet werden, das ist gesetzlich so vorgeschrieben. An der Bonameser Straße wie überall sonst.

Die Freiheit ist eine Schiffsschaukel mit verblassenden Entenhausenern. Donald, Daisy, Dagobert. Die einen schaukelten hoch in die Wolken und wieder zurück, so lange es der Bezahlchip erlaubte. Die anderen wuchteten das glücklichmachende Gerät auf Räder, um neue Wolkenschaukler an neuen Orten in die Luft zu heben. Jetzt ist das Schiff gestrandet und gibt einen Hinweis darauf, was für eine besondere Siedlung das hier ist.

Die Freiheit, das ist für Carola Müller ein Leben im Wohnwagen, ein Leben mit Tieren, ein Leben auf dem Seil. Oder, als zweitbeste Möglichkeit: ein Leben mit anderen, die wissen, dass man mit einem Wohnwagen tollere Dinge tun kann als Campingurlaub zu machen. Und dass es eine Steigerung von Wohnwagen gibt: einen selbst gebauten Bungalow, weit weg von Häuserblocks mit Etagenwohnungen und Baurechts-Satzungen.

So wie in der Bonameser Straße, 60433 Frankfurt am Main. Hier gibt es Hausnummern, aber keine Bushaltestelle. Denn eigentlich soll hier keiner wohnen. Die Autobahn A661 rauscht wie die Nordsee an stürmischen Tagen. An der Bonameser Straße leben Kinder und Erwachsene, Eltern und Großeltern, Paare und Alleinstehende, 80 Menschen etwa. Und Hunde, aber die hat noch keiner gezählt. Wohnwagenstandplatz Bonameser Straße: So heißen die viereinhalb Hektar zwischen den Stadtteilen Eschersheim, Riedberg und Bonames im Behördendeutsch. 1953 schickte die Stadt Frankfurt mehrere Hundert Ausgebombte, Obdachlose, Schrotthändler, Artisten, Schausteller und Sinti in ihren Wohnwagen aufs Ödland im Norden. Die Alteingesessenen erzählen sich, dass auch Prostituierte und Männer in Frauenkleidern dabei gewesen seien, ganz am Anfang. Bieder-herablassend war in den ersten Zeitungsberichten über den Platz von einem „bunten Völkchen“ die Rede. Auch Jenische ließen sich hier nieder – Landfahrer, die jahrhundertelang als Korbflechter, Kesselflicker, Lumpensammler und Schausteller über die Dörfer getingelt waren. Auch sie lebten eine Kultur der Freiheit, des Unterwegsseins, des Losgelöstseins von Konventionen. Kein Jahrzehnt zuvor waren die Jenischen von den Nationalsozialisten verfolgt und teils als „Asoziale“ in Konzentrationslager deportiert worden. Menschen vom sogenannten Rand der Gesellschaft sollten am Rand der Stadt leben, das sah man auch acht Jahre nach Kriegsende durchaus noch so. Es verwundert daher nicht, dass sich kaum jemand in der Bonameser Straße zu seinen jenischen Wurzeln bekennen mag. Zu groß ist die Angst vor den Behörden, vor Diskriminierung und Ausgrenzung. Die Freiheit, sich bedeckt zu halten: Auch die beherrscht man hier gut.

Die Menschen auf dem Platz waren immer dabei und gehörten doch nie dazu, eine Randgruppe ohne Fürsprecher. Bis in die 1970er Jahre hinein Geborene kennen den Ruf „Alteiiiiisen ...“, der durch die Straßen hallte, manchmal begleitet von Glockengeläut oder Flötenspiel. Eine Nachkriegserinnerung, ein Stück alte Bundesrepublik wie das Bimmeln des Eismannes an trägen Sommernachmittagen. Doch die Alteisenhändler blieben „die Anderen“. Wie die Schausteller und die Zirkusleute.

Anfangs führten Dieter Gärtner und seine Nachbarn der ersten Stunde an der Bonameser Straße ein hartes Leben. Auf dem Wohnwagenplatz spendete ein Hydrant Wasser, mehr Infrastruktur gab es nicht für zeitweise bis zu 1000 Bewohnerinnen und Bewohner. Im Sommer knallte die Sonne aufs Brachland. Im Winter half das Zwiebelprinzip: Pullover über Pullover über Pullover. Ein Provisorium zum Nicht-Heimischwerden, so die Idee. Es kam anders.

Heute werfen hohe Birken Schatten, die doch heimisch gewordenen Menschen haben sie selbst gepflanzt. Selbst haben sie auch für Heizung, Kanalisation und Strom gesorgt – illegal könnte man sagen, oder auch aus Notwehr, denn wie soll man ohne Wärme, Wasser und Licht leben? Die Stadt hat diese Eigeninitiativen im Nachhinein meist irgendwie akzeptiert und legalisiert. Viele Familien sind über die Jahre aus den Wohnwagen herausgewachsen und haben sich in Eigenregie Häuschen gebaut. So ist an der Bonameser Straße ein nahezu kleinbürgerliches Idyll entstanden, oder vielmehr: die freiere, buntere, ungezügeltere Spiegelung einer solchen Heimeligkeit.

Wilder Wein rankt an Gartentoren aus dem Baumarkt. Schrankwände aus rustikaler Eiche stehen auf Wohnzimmerböden aus Laminat. Wer zu Besuch kommen darf, der entdeckt stattliche Kaffeedosensammlungen auf Küchenborden und Hometrainer vor Flachbildschirmen. Kleine Plastikrutschen in den Gärten, Familienfotos an den Wänden, Porzellanclowns in Vitrinen, Wimpel des „1. Schausteller-Kegelclubs“: Hier scheinen Menschen zu Hause zu sein, die auf wundersame Weise zugleich innerhalb und außerhalb der gesellschaftlichen Normen leben.

Lenny Müller ist zwei Jahre alt. Carola Müllers Enkel gehört zur sechsten Generation auf dem Platz. Die Menschen aus den angrenzenden Stadtteilen, die aus den richtigen Häusern, hatten andere Namen für diesen Ort: „Zigeunerlager“ zum Beispiel. Lenny wird nicht mehr erleben, was für viele der Älteren Alltag war: Kinder, die allein wegen der Anschrift „Bonameser Straße“ auf der Schulanmeldung gar nicht erst an die örtliche Grundschule verwiesen wurden – sondern gleich an die nächste Sonderschule. Vermutlich wird er auch niemals auf dem Seil laufen lernen wie seine Oma Carola im Familienzirkus. Vielleicht niemals ein Pferd zu dressieren wissen. Das ist nicht schlimm, findet die Oma: „Das Zirkusleben ist hart. Wir wussten nie, ob nächsten Monat genug Geld reinkommt oder nicht. Ein Angestelltengehalt hat auch seine Vorteile.“

Es ist allerdings auch eher unwahrscheinlich, dass der kleine Lenny sich eines Tages selbst einen Bungalow bauen wird. Stirbt ein Bewohner, zieht eine Bewohnerin weg, reißt die Stadt Frankfurt die Unterkunft ab und blockt die Parzelle mit Pollern. Niemand darf mehr dorthin ziehen. Es wird etwas verlorengehen in Frankfurt. Ein bisschen Freiheit, ein bisschen Wildwuchs und ganz viel Heimat.

Anders leben, das ist nicht zeitgemäß. Paradox, eigentlich. Ist doch etwa in Kopenhagen das Stadtviertel Christiania die beliebteste Touristenattraktion: Auch hier haben sich vor Jahrzehnten Menschen zusammengetan, die andere Lebensvorstellungen und vielleicht auch andere Probleme hatten als die Mehrheit. Haben sich Häuschen gebaut und sich fortan als Gemeinschaft in der Gemeinschaft verstanden – pittoresker als an der Bonameser Straße, bunter, womöglich eher bildungs- als kleinbürgerlich. Um ihren Platz zum Leben bangen, das müssen die Christianiter aber wie die Müllers, die Gärtners und ihre Nachbarn.

Denn das Andere ist immer auch ein bisschen bedrohlich. Dabei hat das Wort in der deutschen Sprache so eine schöne Karriere gemacht. Anders sein, wer will das nicht? Mal was ganz anderes machen, so was richtig Verrücktes zum Beispiel: ein Café mit selbstgebackenem Kuchen eröffnen. Nach Bali auswandern. In Indien Yoga lehren. Und Zeitschriftenredakteuren Tiefsinniges in den Block diktieren: „Und dann habe ich gemerkt, Controlling, das war einfach nicht mehr mein Ding. Es muss doch mehr geben im Leben als Zahlen.“ Ein sechsstelliges Erbe von Oma, zum Beispiel, auch Zahlen, aber welche von der guten Sorte. Das akzeptierte Anders ist das wohlige Zuhausesein im Mainstream – nur mit ein bisschen mehr Geld, den richtigen Beziehungen, dem richtigen kulturellen Kapital.

Das Anderssein der Menschen in der Bonameser Straße eignet sich dagegen nicht so gut für Partygespräche: „Und dann habe ich gedacht: So, jetzt mach’ ich das einfach, ich lebe meinen Traum und kaufe mir eine Autoscooter-Anlage.“ „Heute bin ich glücklich. Ich habe meinen eigenen Knobibaguettestand.“ „Auf einmal wusste ich: Ich muss etwas mit meinen eigenen Händen machen. Etwas Haptisches, ganz Ursprüngliches. Als Schrottsammler lebe ich im Moment.“ Ein guter Smalltalksatz klingt anders.

Obwohl Recyclingkunst und vergessene Handwerke doch boomen, dort in der Filterblase der Gutsituierten.

Lenny klammert sich an seine Mutter Jacqueline. Die 22-jährige Tochter von Carola Müller schwärmt von ihrer Kindheit auf dem Platz: „Wir waren so frei. Ganze Sommertage lang haben wir Räuber und Gendarm gespielt, und unsere Eltern mussten sich keine Sorgen machen – was sollte uns schon passieren auf dem Gelände?“ Ein bisschen Bullerbü, wenn auch nicht die Bilderbuchversion, sondern eine rauere. Auch Jacqueline ist nicht Seiltänzerin, sondern Nageldesignerin geworden. Carola Müller steckt ihre Hände aus, die Fingernägel strahlen vulkanrot. „Meine Nägel sind mein ganzer Stolz. Ich muss zur Chemo, das greift bei anderen die Nägel an. Bei mir nicht, Gott sei Dank.“ In den 9. Stock eines Gebäudes an der Frankfurter Uniklinik gehe sie jetzt dauernd, in die Onkologie, „das ist ganz, ganz schrecklich für mich. In solchen geschlossenen Räumen bekomme ich Platzangst. Ich brauche Freiheit zum Atmen“.

Die Freiheit, sie braucht manchmal auch Helferinnen und Helfer. Zur Lebenswelt auf dem Platz gehörten vom ersten Tag an auch die Sozialarbeiter. Die Evangelische Kirche engagiert sich seit 1953 für die Menschen in der Bonameser Straße. Es war die Zeit, als der Theologe Martin Niemöller Präsident der Evangelischen Kirche Hessen und Nassau war. „Lebensentwürfe von Menschen, die nicht dem breiten Mainstream folgen, betrachten wir nicht als Problemstellung, sondern als ein Zeichen von Vielfalt“, sagt noch heute Michael Frase, der Leiter des Diakonischen Werkes für Frankfurt am Main. Gottesdienste, ein Jugendhaus, ein Kindergarten, Ferienfreizeiten: In den Fotoalben der Menschen sind auch die organisierten Gemeinschaftserlebnisse verewigt.

Seit 2012 ist es Sonja Keil vom Diakonischen Werk, die hier alle kennen und wie eine alte Bekannte begrüßen. „Es ist ein Fehler zu glauben, dass Menschen, die zum Beispiel als Schausteller viel unter wegs sind, nicht sesshaft sein wollen“, sagt sie. „Sie schätzen es, wenn sie einen festen Standort haben. Aber sie haben auch gelernt, Behörden und Ämtern mit Misstrauen zu begegnen.“ Und in welchem städtischen Wohngebiet kann man schon einen Lkw vor der Tür parken oder ein Karussell warten?

Sonja Keil ist aber nicht nur Ansprechpartnerin für Probleme mit den Behörden und Sprachrohr für Menschen, die sich mit dem Formalen manchmal schwertun. Die Soziologin arbeitet auch daran, das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner in der Frankfurter Geschichtsschreibung zu verankern. Die Biografien der ersten von ihnen sind jetzt Teil der „Bibliothek der Alten“ im Historischen Museum Frankfurt. „Lange wurden die Traditionen von Landfahrern, Schaustellern und marginalisierten Handwerkern wie Kesselflickern, Korbmachern, Schrotthändlern in den Geschichtsbüchern ignoriert.“

So kommt es, dass an einem Spätsommertag 63 Jahre, nachdem die ersten Wohnwagen in der Bonameser Straße vor Anker gingen, ein ungewohnt gemischtes Publikum im großen Giebelsaal des Frankfurter „Hauses am Dom“ Platz nimmt. Das „Haus am Dom“ mitten in der Altstadt ist eine Oase des Bildungsbürgertums, die katholische Akademie Rabanus Maurus organisiert hier Vorträge, auch von evangelischer Seite werden die hellen Räume mit den edlen Holzböden gern gebucht.

Die Kinder, Enkel und Urenkel der Pioniere vom Wohnwagenplatz sind heute aus dem Norden der Stadt ins Zentrum gekommen, wo sich Antiquitätenläden, Design-Boutiquen und Restaurants mit groben Holztischen und biologischen Mittagsmenüs aneinanderreihen. „Das ist jedem Menschen seine eigene Freiheit, so zu leben, wie er möchte“, sagt Adi Fletterer. Die Familie Fletterer war viele Jahrzehnte berühmt für ihre halsbrecherischen Darbietungen auf dem Hochseil. „Doch wir Zirkusleute sind eine aussterbende Art.“ Die Definitionshoheit über ihre Biografien wollen sich die Menschen vom Platz aber nicht nehmen lassen. Adi Fletterer lebt seit seiner frühen Kindheit in der Bonameser Straße, heute sitzt er mit Sonja Keil auf dem Podium. Die Soziologin drückt das mit der Freiheit etwas anders aus als Fletterer. „Vergessene Orte – Parallele Lebenswelten: Kultur zwischen Tradition und Moderne am Beispiel des Wohnwagenstandplatzes Bonameser Straße“ steht auf dem Veranstaltungsflyer. Es sei ein besonderes Wohngebiet und wohl einmalig in Deutschland, sagt Keil. Und historisch bedeutsam. So sei zum Beispiel das Schrottgewerbe ein wichtiger Teil bundesrepublikanischer Geschichte.

Es ist einer der seltenen Momente in Frankfurt, in dem sich Lebenswelten ineinander schieben, die ansonsten einfach parallel nebeneinander existieren. Teenager sind gekommen und Rentnerinnen, Kinder mit blondem Stachelhaar streifen durch die Reihen, manche Männer tragen Pferdeschwanz und manche Frauen rotgefärbtes Haar.

Stadtgeschichte mal zwei also, als Powerpoint-Präsentation und mit ihren Protagonisten aus Fleisch und Blut, die sehr lustige, aber auch sehr traurige Geschichten live erzählen. Da steht ein Mann im Publikum auf, lässt sich das Mikrofon geben, und berichtet, wie die Kinder aus der Bonameser Straße bis in die 80er Jahre hinein täglich von ihren Klassenkameraden drangsaliert wurden. „Die Lehrer sagten: ‚Auf dem Schulhof lasst ihr die Zigeunerkinder in Ruhe, was vor dem Tor passiert, ist uns egal.‘“ Die Leute aus dem „Zigeunerlager“. Ein Begriff, der im Stadtteil kursierte und der den Bewohnern verhasst ist. Erinnert er sie doch an die düstere Vergangenheit, an die Deportationen durch die Nazis, an Zwangssterilisationen, an die Verachtung der Gesellschaft, von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Traumata, die sie an ihre Kinder und Kindeskinder weitergegeben haben.

Gebannt hören die Menschen im Publikum, solche aus echten Häusern und jene aus den Wohnwagen, wie Sonja Keil über Entwurzelte als soziale Folgeerscheinungen aus den Kriegen der Geschichte spricht, vom Dreißigjährigen Krieg bis zu Kaiserreich und Zweitem Weltkrieg. Ernst klingt das und wichtig. Ein Beamer wirft Fotos der Wohnwagensiedlung aus den 60er und 70er Jahren an die Wand. Kinder turnen an einem Klettergerüst, eine alte Frau sitzt in einem weißen Gartenstuhl aus Plastik, eine Gruppe Hochseilartisten scheint zu schweben, als Menschenpyramide über Bombenkratern. „Das da ganz oben, das ist meine Mutter“, ruft ein Mann. „Und da waren wir auf Freizeit in Hofgeismar.“ Erinnerungen werden wach.

Die Menschen auf dem Wohnwagenplatz unterscheiden sich voneinander, natürlich tun sie das. Doch es gibt ein verbindendes Element: Fast alle Familien stammen aus einer Tradition des Unterwegsseins. Es sind Familien, in denen viel erzählt und wenig aufgeschrieben wurde, bis heute ist das so. Manchmal war das ein Problem in der Vergangenheit. Sie hatten eigene Rituale, eigene Gewohnheiten, eigene Werte: Die Familie zählte viel, der Staat wenig. Sie waren nirgendwo verwurzelt, sie waren draußen. Im Wortsinne, aber auch gesellschaftlich. Außenseiter, ja. Aber mit einem festen Platz in der Gemeinschaft. Doch die Landfahrerplätze vergangener Jahrhunderte gibt es in Deutschland kaum noch – anders als etwa in Frankreich oder in Irland.

Besonders die Jenischen entzogen sich allen gesellschaftlichen Schubladen. Schon immer hatten Jenische und andere Nichtsesshafte daher Mühe, ihre Identität zu behaupten. Vermutlich sind sie in der Frühen Neuzeit als Minderheit aus der sesshaften Unterschicht hervorgegangen. Diskriminierung, Krieg, Armut, Hungersnöte trieben die Menschen auf die Wanderschaft. Die Jenischen gehören nicht zu den Sinti und Roma, und anders als etwa die Roma mit ihren Verbänden bekennen sie sich nicht gern zu ihrer Herkunft.

Es gilt als gesichert, dass auf dem Wohnwagenplatz an der Bonameser Straße einige Jenische leben, das bestätigt Sonja Keil. Sie selbst reden nicht gerne darüber, erst recht nicht mit „Privaten“, wie sie Fremde nennen. Fremde aus der etablierten Gesellschaft, aus fest gemauerten Häusern. „Eine transnationale europäische Minderheit“ heißen die Jenischen korrekterweise. Die Gesellschaft brauchte sie, zu jeder Zeit. Als Herumreisende hatten sie Kenntnisse erworben, Kniffe gefunden, das Know-how entwickelt, um Handel über Land zu betreiben – mit Tuch, Geschirr und Besteck. Sie wussten lange vor den Zeiten von Spezialklebern genau, was es brauchte, um entzweigeschlagene Gegenstände zu reparieren, um Töpfe zu flicken und im Alltag Nötiges herzustellen, Körbe etwa. Dann wussten sie in der nachrichtenarmen Zeit auf dem Land stets das Neueste zu berichten – sie kamen ja herum. Sie konnten Musik machen und Witze erzählen.

Durchaus erfolgreich, wenn man so will. Denn wenn es einen Ort gab, an den wirklich jeder gerne ging, dann war das der Jahrmarkt. Kirchweih, Kirmes, Kerb – lauter Sehnsuchtsorte, bis heute. Warum wurden die Menschen, die diese Sehnsuchtsorte am Laufen hielten, trotzdem so misstrauisch beäugt? Anstatt gefeiert zu werden wie später die Protagonisten aus Funk und Fernsehen? Warum gehören Schausteller bis heute nicht richtig dazu? Die Geschichte der Menschheit ist voller Paradoxien. Statt Wohlwollen und Dank für ihren unermüdlichen, körperlich anstrengenden Einsatz zum Vergnügen anderer zu ernten, wurden die Jenischen immer in Verbindung mit Kriminalität gebracht. In der NS-Zeit wurde gegen „nach Zigeunerart Umherziehende“ polizeiliche Vorbeugehaft angeordnet.

Wie viele Jenische heute genau in Deutschland leben, ist unklar. Rund 400.000 sollen es sein – doch selbst innerhalb der Gruppe ist nicht immer klar, wer dazugehört und wer nicht. „Wahrscheinlich haben wir alle, ohne es zu wissen, schon mit Jenischen Kontakt gehabt“, sagt Sonja Keil.

Kürzlich haben es die Jenischen sogar ins Kino geschafft. Denn der 14-jährige Ernst Lossa war einer von ihnen. Seine wahre Geschichte würdigt der prominent besetzte Film „Nebel im August“ des Regisseurs Kai Wessel, der im Herbst 2016 in die deutschen Kinos kam. Am 9. August 1944 bekam Ernst Lossa in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren/Irsee im Rahmen des Euthanasie-Programms der Nazis zwei tödliche Spritzen mit einer Überdosis Morphium. Der Sohn fahrender Händler war kerngesund gewesen, als er einige Monate zuvor wegen „asozialen Verhaltens“ von einem Erziehungsheim in die Psychiatrie abgeschoben wurde. Es ist dokumentiert, dass er von den Tötungen in der Klinik wusste und mehrfach versuchte, andere Kinder vor den tödlichen Spritzen zu retten. Ernst Lossa stahl Essen für jene Patienten, die durch die sogenannte Entzugskost verhungern sollten, er ließ absichtlich den vergifteten Himbeersaft fallen, mit dem er eine kleine Patientin füttern sollte. Ein jenischer Held, gefeiert auf der großen Leinwand, mit Stars wie Sebastian Koch.

Heute sind manche Jenische, wie früher ihre Eltern und Großeltern, Altwarenhändler. Und selbst das wird ihnen schwer gemacht, denn das Kreislaufwirtschaftsgesetz hat das Sammeln den lokalen Behörden und Entsorgungs-GmbHs übertragen – in Frankfurt wie anderswo. Die „Kleinsammler“, wie sie im Amtsjargon genannt werden, gerieten in die Mühle der Modernisierung, der Zulassungsbeschaffung, der Nachweise und der Effizienz.

Es sind schwierige Zeiten für jene, die anderen Berufen nachgehen als die meisten. Wie die Familie Fletterer, die sich an der Bonameser Straße ein gemütliches Heim eingerichtet hat und deren Vorfahren zu den großen deutschen Artistenfamilien zählten. Ein weiches braunes Sofa steht in einem Wohnzimmer, das voller Erinnerungsstücke ans Zirkusleben ist: In Vitrinen sind Hunderte Clowns aus Porzellan wie Pantomimen in Bewegungen erstarrt, sie beobachten aus allen Ecken, wie Adi Fletterer und seine Frau Heidi Gläser auf den Couchtisch stellen und wie die zweijährige Monique quietschend versucht, einen Kreisel in Gang zu bekommen. Sie beobachten, wie Moniques Brüder Marcel, Joel und Gilbért ihre Lego-Ninjago-Figuren herzeigen und die neuesten Bleistiftzeichnungen von Pokémons. Eine Familienidylle, die man sich auch gut in einem Zirkuswagen vorstellen kann.

Seit kurzem leben die Fletterers das ganze Jahr über an der Bonameser Straße. Bis vor einigen Jahren war ihr Leben zweigeteilt: In den warmen Monaten waren sie in Saarland mit dem Familienzirkus „Oriental“ unterwegs, der Projekte in Schulen und Kindergärten anbot. Im Herbst und im Winter lebten sie in Frankfurt. Wie kann ein derart mobiles Familienleben gelingen? „Indem man die Kinder in den Mittelpunkt stellt“, sagt Adi Fletterer, während er wie nebenbei ganz ruhig einen kleinen Streit zwischen zwei Söhnen schlichtet: „Niemand hat deine Figuren genommen, schau doch einfach mal in deinem Zimmer nach.“

Zum Beispiel das mit der Schule. Kinder aus Zirkus- und Schaustellerfamilien müssen die Schule an dem Ort besuchen, wo das Unternehmen gerade gastiert. Das heißt, sie sind oft jede Woche woanders. „Das habe ich als Kind selbst erlebt, aber so findet man keine Freunde, und das Lernen ist auch schwierig“, sagt Heidi Fletterer. Deshalb wollte sie, dass ihre eigenen Kinder nur zwei Schulen besuchen: eine im Saarland und eine in Frankfurt, jeweils sechs Monate im Jahr. „Wir haben sie morgens manchmal hundert Kilometer hingefahren und nachmittags wieder abgeholt. Aber das war uns egal.“

Der jüngste Sohn, Marcel, ist gerade eingeschult worden – und darf das ganze Jahr über an der Eschersheimer Grundschule bleiben. Denn im Herbst 2015 war Schluss mit dem „Circus Oriental“, da wurde das große blaue Zirkuszelt zum letzten Mal abgebaut und dann verkauft. „Unser Ansprechpartner für die Schulen ist in Rente gegangen, ohne ihn konnten wir die Projekte nicht weiterführen“, erzählt Heidi Fletterer. Und ihre Kinder sollen auf jeden Fall erst einmal einen Beruf lernen, bevor sie womöglich ins Artistengeschäft gehen. Der elfjährige Joel kann auf den Händen laufen, seit er vier ist.

Heidi Fletterer stammt aus einer echten Zirkusfamilie, ihr Urgroßvater habe den ersten „Saarländischen Staatszirkus“ gegründet und sei schon Zirkusdirektor gewesen, erzählt sie. Mit ihrem „Cirkus Oriental“ reisten später ihre Eltern durchs Saarland. Als Heidi 21 Jahre alt war, starb ihr Vater an Krebs. „Das war hart, denn Zirkus ist eine Männerwelt. Trotzdem haben meine Mutter, meine Schwester und ich weitergemacht.“ Heidi Fletterer hat ein warmherziges Lachen, und man glaubt ihr sofort, dass sie nicht nur auf dem Seil gelaufen ist, sondern auch als Clownin gearbeitet hat. „Wir hatten 50 Tiere, darunter drei Kragenbären, ein Kamel, ein Dromedar und zwei Lamas, außerdem Ziegen, Pferde, Esel. Die haben wir mit vier Personen versorgt.“ Man spürt ihre Begeisterung, wenn sie von der Zeit erzählt. „Wir haben alle Nummern selbst gemacht, Clowns, Tiere, Akrobatik, Zauberei.“ Dazu kamen Flyer, die in Briefkästen geworfen, Tierfutter, das eingekauft werden musste. Und das Zirkuszelt mit seinen Riesen-Heringen, die die Familie an einem neuen Ort gemeinsam und in aller Herrgottsfrühe in den Boden rammte.

Die Clownin gibt es noch, das Kostüm ist keineswegs eingemottet. Denn ganz möchte Heidi Fletterer die familiäre Zirkustradition nicht aussterben lassen. Und so entwickelte sie das Projekt „Koffer-Cirkus“: Dabei kommt Heidi Fletterer mit zwei großen Koffern voller Zirkusutensilien in Frankfurter Kindertagesstätten und erarbeitet dort mit den Jungen und Mädchen ein echtes Zirkusprogramm. Das dann natürlich auch aufgeführt wird. Denn ohne den Applaus am Ende eines harten Tages macht Zirkus keinen Spaß.

Da sind sie wieder, die zwei Welten, die sich ineinander schieben: Die Zirkusfrau zeigt den Kindern der Berufstätigen aus den steinernen Häusern, dass sie unglaubliche Dinge können – zum Beispiel ganz oben auf einer Viererpyramide aus Trapezen stehen und dabei noch jonglieren. „Die Eltern sind oft ganz baff, was in ihren Kindern so steckt, das hätten die gar nicht für möglich gehalten“, sagt Heidi Fletterer. Die Freiheit, sich auszuprobieren und vielleicht doch mal einen ganz ungewöhnlichen Weg zu gehen: Heidi Fletterer und die Menschen aus der Bonameser Straße können davon erzählen. Wenn man ihnen zuhört.

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