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25 Jahre Game Boy in Deutschland: Matsch-Screen statt Touchscreen

Foto: Stephan Freundorfer

25 Jahre Game Boy in Deutschland Matsch-Screen statt Touchscreen

Mit sparsamer Technik und einem Suchtmittel als Beigabe machte der Game Boy vor 25 Jahren mobiles Spielen gesellschaftsfähig. Heute wirken die Geräte wie Apparate aus einer anderen Welt - vor allem ihr Vorläufer.
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

Als der Game Boy im Herbst 1990 Europa erreicht, hat er die zwei größten Videospielnationen schon erobert. Seit dem Vorjahr ist er in Japan und den USA erhältlich, rund sechs Millionen Mal hat sich der hellgraue Videospiel-Klotz bereits verkauft. Dabei ist die tragbare Konsole vor allem in puncto Optik bescheiden ausgestattet: Statt Farben stellt das LC-Display nur vier Grünstufen dar, bei flotter Action verschmiert das Bild. Und wegen fehlender Hintergrundbeleuchtung kann man nur spielen, wenn es hell genug ist.

Dem Vergleich mit neuesten Heimkonsolen wie Segas Mega Drive oder Spielecomputern wie dem Commodore Amiga kann der Game Boy sowieso nicht standhalten. Aber auch gegen die bereits erhältliche mobile Konkurrenz sieht er reichlich alt aus: Das Handheld der Videospielveteranen Atari, genannt Lynx, lockt mit einer umfangreichen Farbpalette und für damalige Verhältnisse eindrucksvoller Pseudo-3D-Grafik. Doch während das wuchtige Atari-Gerät sechs Mignonzellen in kürzester Zeit leersaugt, kommt Nintendos Taschenspieler mit nur vier Batterien über 20 Spielstunden lang aus. Zudem ist der Game Boy mit einem Preis von 169 D-Mark günstiger als andere Gaming-Hardware. Und ihm wird ein süchtig machendes Knobelspiel beigepackt.

Russischer Hochstapler

Minoru Arakawa, Chef von Nintendo Amerika und Schwiegersohn von Firmenpatriarch Hiroshi Yamauchi, spielt Mitte 1988 zum ersten Mal "Tetris" und erkennt, dass das Werk des russischen Computeringenieurs Alexei Paschitnow perfekt zur neuen Hardware passt. Nintendo sichert sich die Handheld-Rechte und legt dem Game Boy bei dessen Veröffentlichung in den USA und Europa das "Tetris"-Modul bei, statt auf die Strahlkraft des Firmenmaskottchens zu vertrauen. Auch wenn das Hüpfspiel "Super Mario Land" in aller Welt den Verkaufsstart des Game Boy begleitet.

Der Plan, durch die gleichermaßen unkomplizierte wie packende Klötzchenstapelei neue Zielgruppen zu erschließen, geht auf: Der Game Boy wird nicht nur von Kindern und Eltern gekauft, auch sonst wenig pixelaffine Durchschnittsmenschen nehmen dank "Tetris" die neue Nintendo-Konsole zur Hand. Das Vier-Grünstufen-Puzzle wird zum ersten "Casual Game" der Branche, zu einem "Candy Crush" der frühen 1990er. Selbst mächtige Männer wie US-Präsident George Bush sr. (der 1991 Game-Boy-spielend im Krankenbett abgelichtet wird) können sich offenbar dem hypnotischem Reiz von "Tetris" nicht entziehen.

"Dicke Daumen"

Auch DER SPIEGEL beschreibt, wie "gestandene Mannsbilder" dem Game-Boy-Fieber erliegen. Der "Spielecomputer im Taschenrechnerformat" startet laut Ausgabe 50/1990 erfolgreich in Deutschland , bis Weihnachten des Jahres sind 400.000 verkaufte Einheiten "längst erreicht". Auch weil Nintendo - die Firma eröffnet erst Mitte 1990 eine Europazentrale im nordbayerischen Großostheim - massiv ins Marketing investiert. 15 Millionen Mark fließen laut SPIEGEL in die "bisher teuerste Werbekampagne für ein einzelnes Spielzeug" .

Nintendo macht aber nicht nur klassische Werbung, sondern sorgt durch einen offiziellen Klub samt zugehörigem Gratismagazin für Kundenbindung. Stolz verkündet man in dessen Jahresendausgabe 1991 einen satten Zuwachs von ursprünglich 55.000 auf 310.000 Mitglieder, was vornehmlich an der Popularität des Game-Boy gelegen haben dürfte: Nintendos NES-Heimkonsole ist ein alter Hut, der Nachfolger SNES erscheint erst ein halbes Jahr später. Weltweit sind zu diesem Zeitpunkt bereits rund 20 Millionen Game Boys ausgeliefert, ein Jahr später verkündet DER SPIEGEL 3,4 Millionen Geräte in Deutschland .

Breite Unterstützung

Der anhaltende Erfolg des Game Boy wird allerdings nicht nur von hauseigenen Spielen rund um populäre Nintendo-Namen wie "Super Mario", "Metroid" oder "Legend of Zelda" getragen. Entwickler und Spieleverlage aus Ost und West stürzen sich auf die Plattform, die dank hoher Verbreitung und sparsamer Technik, die auch eine vergleichsweise günstige Spieleentwicklung erlaubt, satte Profite verspricht.

Im Gegensatz zu meist dürftig umgesetzten Kinofilmen (wie "Terminator 2" oder "Alien 3") gelangen viele große Spielemarken in überraschend hoher Qualität auf den kleinen Bildschirm. So freuen sich Ballerspieler über gelungene Umsetzungen beliebter Arcade-Automaten wie "R-Type" oder "Parodius", Action-Abenteurer schwingen die Peitsche in "Castlevania", Rollenspieler vergnügen sich bei "Final Fantasy Legend" und Hüpf-Profis mit "Mega Man". Doch vor allem Puzzle-Fans geben auch nach Erkalten ihrer "Tetris"-Liebe den Game Boy nicht mehr aus der Hand: "Dr. Mario", "Picross", "Sokoban" oder "Kwirk" fesseln unzählige mobile Stunden lang.

Dominant bis ins neue Jahrtausend

In einer Branche, die getrieben ist vom technischen Fortschritt, in der Hardware-Generationen im Schnitt alle fünf Jahre abgelöst werden, hält der Game Boy erstaunlich lange durch. Erst 1996 veröffentlicht Nintendo mit dem Game Boy Pocket eine aktualisierte Hardware, die kleiner und leichter ist als die Urversion und deren Bildschirm klare Schwarz-Weiß-Optik liefert.

Mit einem echten Nachfolger hat man es nicht eilig: In Japan sorgt das Monstersammelspiel "Pokémon" ab 1996 auf dem Game Boy für Furore, zwei Jahre geht auch der Westen auf die Jagd nach Pikachu & Co. Ende 1998 bringt Nintendo mit dem Game Boy Color einen halbherzigen, erst 2001 mit dem Game Boy Advance einen vollwertigen Nachfolger - zwölf Jahre und mehr als 100 Millionen verkaufte Exemplare nach Start des Ur-Game-Boy.

Der Mario-Konzern nimmt den Schwung aus der Veröffentlichung des ersten weltweit erfolgreichen Spiele-Handhelds mit ins neue Jahrtausend und startet im März 2005 mit dem Doppelbildschirm-Gerät Nintendo DS eine weitere Erfolgsstory - auch hier zahlt sich die Fokussierung auf die Casual Gamer aus. Dieses Publikum geht Nintendo allerdings im neuen Jahrzehnt weitgehend verloren: Der Gelegenheitsspieler widmet sich heute Smartphone und Tablet, mit dem jüngsten Handheld 3DS erreicht Nintendo nur noch Kinder und Gamer - und damit die klassischen Zielgruppen der Branche aus den Vor-Game-Boy-Tagen.

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