Ringe frei für Runde vier
Nun hat also auch Marvel seinen Herrn der Ringe. Zwar bringt der es nur auf 10, aber von halber Kraft kann dennoch keine Rede sein. Sie garantieren nichts weniger als Unsterblichkeit und Unbesiegbarkeit, zumindest gegenüber den schnöden Erdlingen. Bei all den eroberten Königreichen, gestürzten Regierungen und begangenen Spionageakten ist es mehr als erstaunlich, dass die filmische Gegenwart sich so gar nicht von unserer realen unterscheidet und dass Ringbesitzer Xu Wenwu in seinem 100-jährigen Wirken nicht zum alleinigen Weltherrscher aufgestiegen ist. Nun ja, wir befinden uns in einem Fantasyfilm, noch dazu nach einem Comic, noch dazu von Disney, äh Marvel, da sollte man nicht tiefer bohren. Letztlich hat die Macht der Liebe die Ringe in eine Truhe verbannt, so dass Wenwu von seinem finsteren Plan, sich der Mächte des magischen Ortes Ta Lo zu bemächtigen, absieht und sich dem trauten Familienleben widmet.
Der Aufbruch in Marvels nicht ganz risikolose Phase Vier - BLACK WIDOW bildet zusammen mit SPIDER MAN: FAR FROM HOME eher ein Verbindungsstück, als dass er neue Impulse geben konnte/sollte - macht trotz seiner Fantasy-Baukasten-Story anfangs vieles richtig. Die märchenhafte fernöstliche Optik und Mystik sorgt für frischen Wind und einen dringend benötigten Farbwechsel. Die übermächtigen Avengers und ihr episches Endspiel stehen wie der große weiße Elefant im MCU-Raum, die kann nur ein radikaler Tapetenwechsel vertreiben. Soweit die Theorie.
Nun zur Praxis. Zwar hat man frisch gestrichen, aber die Farbe viel zu dünn aufgetragen. Denn unter dem bunten Asia-Anstrich zeichnet sich, kaum ist er trocken, recht deutlich die sattsam bekannte Marvel-Origin-Tapete ab. Wieder haben wir einen sympathisch jungenhaften Kumpeltyp, der über Kräfte verfügt, von denen sein Umfeld nicht das Geringste ahnt. Hier sind es Kampfqualitäten, die einen Clon aus Chuck Norris, Steven Seagal und Iko Uweis mindestens ins Schwitzen bringen würden. Natürlich gibt es auch einen lustigen Sidekick, der sinnbildlich für die offenen Münder der Zuschauer stehen und vor allem die perfekt getimten Lachbomben zünden soll. Beide werden dann unvermittelt in ein Abenteuer gerissen bei dem es am Ende um nichts weniger als die Zerstörung/Unterwerfung des Planeten geht.
SHANG-CHI AND THE LEGEND OF THE TEN RINGS ist also durch und durch Marvel und damit ein qualitativ grundsolides SiFi-Fantasy-Action-Abenteuer für die ganze Familie. Er ist damit aber auch ein glatt gebügeltes Stück Kommerzkino, dessen DNA inzwischen bei den allermeisten als entschlüsselt gelten kann. Risikofreude und Innovationsgeist sehen jedenfalls anders aus und man darf gespannt sein, ob der schon ewig prognostizierte Niedergang des übermächtigen MCU nun endgültig begonnen hat, zumal die Trailer zum neuen Herzstück THE ETERNALS ebenfalls wenig inspiriert wirken. Die ersten Zahlen aus den USA und ein zu erwartendes Fabelergebnis aus dem asiatischen Raum (vor allem China) sprechen allerdings eine andere Sprache.
Und immerhin gibt es auch hier wieder ein paar denkwürdige Szenen, vor allem im Actionsegement. Wenn Shawn/Shang-Chi inmitten eines durch die Straßen von San Francisco bretternden Linienbusses ein Dutzend finsterer Gestalten vermöbelt, oder hoch über den Dächern von Macao auf einem Bambusgerüst prügelt, dann ist das Martial-Arts at its best. Auch die erste Begegnung seiner Eltern ist ein choreographischer Genuss und erinnert in seiner Symbiose aus Kampf und Tanz an TIGER AND DRAGON. Dazu hat Awkwafinas offenkundiges Bewerbungsvideo JUMANJI 2 nicht zu viel versprochen, denn ihre Oneliner, Gags und Pointen treffen allesamt ins Schwarze und befeuern so auch die Chemie zum ansonsten etwas blassen Hauptdarsteller Simu Liu.
Zur Wahrheit über SHANG-CHI gehört aber neben einer allzu oberflächlichen Familientragödie auch ein letztes CGI-Drittel, das mal wieder deutlich mehr Rechen- als Kreativleistung zu Tage fördert und mit der inzwischen offenbar obligatorischen Ignoranz physikalischer Gesetzmäßigkeiten sämtliche Anflüge von Spannung und Dramatik bereits im Keim erstickt. Das ist um so ärgerlicher, da man mit Hongkong-Legende Tony Leung ein Bad Guy-Schwergewicht im Cast hat, das hier wie seine gesamte Kollegenschar zum Statisten degradiert wird.
Vom partiellen Fantasy-Overkill kann sich also auch Marvels Ring-Hüter nicht frei machen, was aber in diesem Fall angesichts eines über 20 Filme umfassenden Kosmos und einer sattsam bekannten Origins-Formel stärker ins Kontor schlägt als bei Sir Peter. Ein hoher Unterhaltungswert und die gewohnt schmissige Mixtur aus Leichtigkeit und Sense of Wonder bringen zwar auch diesen Marvel-Eintrag souverän über die Ziellinie, aber für die eigenen Ansprüche und vor allem die ambitionierten Zukunftspläne muss definitiv mehr kommen. Es ist immer schwerer zum zweiten Mal ein Endspiel zu erreichen, ganz zu schweigen von einem erneuten Triumph. Shang-Chi mag der Herr der neuen Marvel-Ringe sein, ein Meister ist er deshalb noch lange nicht.