In einem der innovativsten Filme der letzten 50 Jahre hat der Held die Wahl zwischen einer roten und einer blauen Pille: „You take the blue pill—the story ends, you wake up in your bed and believe whatever you want to believe. You take the red pill—you stay in Wonderland, and I show you how deep the rabbit hole goes.“
Im neuesten High-Concept Film des Streaming-Giganten Netflix geht es auch um Wunderpillen. Nur weiß man bei denen genau, dass etwas passieren wird. Sie verändern die eigene DNA und verleihen diverse Superkräfte. Klingt auf dem Papier originell, weicht auf dem Schirm aber sehr schnell einem unaufgeregten „Na ja“. Eine Überraschung ist das nicht, denn längst hat sich für den darbenden Kinofan heraus kristallisiert, dass man bei Netflix immer nur die blaue Pille verabreicht bekommt. Der filmische Kaninchenbau ist mit einem Netflix-Akkount jedenfalls nicht zu ergründen. Da findet man nicht mal den Zugang.
PROJECT POWER liefert dafür mal wieder den schlagenden Beweis, der Angriff auf die Kinobranche bleibt auch nach diesem Ritt nicht mehr als ein auf schnöde Marktanalysen fußendes Projekt. Die Parameter sind immer dieselben. Man nehme ein zwei bekannte Namen der Konkurrenzbranche (hier Jamie Foxx und Joseph Gordon-Levitt), suche sich ein paar angesagte Prämissen (hier Wunderdrogen und Superkräfte), nehme einen Regisseur, der etwas in der Art schon mal erfolgreich auf die Leinwand gebracht hat (hier das Duo Henry Joost und Ariel Schulman mit dem in jeder Hinsicht besseren NERVE) und fertig ist das Deluxe-Menü für die Generation Streaming.
Zu Beginn schmeckt das auch ganz gut. Wie in NERVE katapultieren Joost/Schulman den Zuschauer regelrecht in ein rauschhaftes Szenario aus rasanter Action und visueller Pracht. Kurzzeitig schimmert die verabreichte Pille tatsächlich rot. Binnen der ersten 10 Minuten lernen wir das gesamte relevante Personal kennen, werden von der zerstörerischen Kraft der neuen Wunderdroge regelrecht mitgerissen und erwarten gespannt eine komplexe, mindestens aber eine raffinierte Backstory. Witzigerweise wirkt die neuartige Droge nur für exakt 5 Minuten, danach finden sich die Aufgeputschten wieder mit ihrer gewöhnlichen Existenz konfrontiert. Witzigerweise, weil es dem Zuschauer ganz genauso geht, denn nach dem Auftakt versandet der wüste Bildersturm immer mehr in seiner eigenen Redundanz und Einfallslosigkeit. Die Hintergründe werden schnell enthüllt und sind ausgetretener Genre-Standart. Die Beziehungen zwischen dem Heldentrio entwicklen sich in unangenehm vorhersehbaren Bahnen, das „große“ Finale eingeschlossen.
Apropos Heldentrio. Art (Jamie Foxx) bringt als missbrauchter EX-Soldat und Vater im 96-Hours-Modus gleich eine ganze Klischeepalette aufs hibbelige Parkett. Frank (Gordon-Levitt) gibt die ebenfalls nicht gerade frische Nummer des durchgängig missgelaunten Arschloch-Cops inklusive aufgesetztem „Clint Eastwood“-Running Gag. Schließlich ist da noch die Nachwuchsrapperin und aus Not dealende Rotzgöre Robin (Dominique Fishback), die natürlich das Herz am rechten Fleck hat und den beiden Alpha-Tieren Art und Frank wiederholt den Allerwertesten rettet. Wenigstens wird dieses Pappkameraden-Personal von gestandenen Mimen verkörpert, so dass man ihnen zumindest anfangs die Daumen drückt, aber gegen die auf bloße Schauwerte setzende Inszenierung sind sie sehr schnell auf verlorenem Posten.
Die Idee nicht zu wissen, welche in der eigenen DNA-schlummernden Kräften entfesselt werden, ob sie vielleicht sogar zur Selbstzerstörung führen, böte eine Reihe interessanter philosophischer Ansatzpunkte, dient in PROJECT POWER aber lediglich als Leistungsschau aktueller Tricktechnik oder als visueller Candy für Fans bitreicher Konsolenaction. Dazu nimmt der Einfallsreichtum bei der Umsetzung sukzessive ab. Schon die ersten Mutationen orientieren sich auffällig an bekannten Superhelden (Menschliche Fackel, Kugelsicherheit und Thermoregulierung), sind aber zumindest optisch nett umgesetzt. Wenn am Ende nur noch Variationen des Hulk und von Wolverine kommen, dann ist das imaginäre Achselzucken aber längst zum Reflex geworden.
Das gilt letztlich für das gesamte Projekt. Von Power keine Spur. Mehr schon von „Sour“. Das ganze Potpourri stößt einem schnell unangenehm auf und verursacht eine finale Katerstimmung. Ein visueller Overkill-Brei, ohne Substanz, Herz oder Seele. Die Figuren sind einem egal, die Handlung platt und vorhersehbar und das im Kern interessante Thema bleibt gänzlich ungenutzt. Was bleibt, sind ein paar nett anzusehende Action- und Krawallszenen. Für den Angriff auf den angeschlagenen Kinofilm ist das viel zu wenig. Zusammen mit dem Michael Bay Getöse 6 UNDERGROUND und der Superhelden-Dystopie THE OLD GUARD bildet PROJECT POWER nun binnen Jahresfrist ein wenig einschüchterndes und lieblos zusammen gezimmertes Flopbuster-Trio (Tendenz fallend), bei dem außer viel Lärm kaum etwas geboten wird. Unterhaltung als Fast Food-Äquivalent kann und sollte nicht der Anspruch sein. Das Netflix-Logo erstrahlt ja selbstbewusst in strahlendem Rot, die verabreichten Filmpillen sind aber nach wie vor alle blau. Neo hätte die nicht geschluckt, aber der war auch bereit, mal was zu riskieren.