Bond: Endgame
Es gibt Gründe, warum Filmfiguren zu Mythen werden. Sie haben eine bestimmte DNA, spezifische Eigenschaften, sie definieren einen Kosmos wiederkehrender und einander bedingender Elemente, die ein vertrautes Gefühl, eine besondere Stimmung hervorrufen. Spielt man bis zu einem gewissen Grad daran herum, kann das sehr unterhaltsam, spannend, aber auch vergnüglich oder rührend sein. Es gibt nicht viele solcher Charaktere und kaum welche, die es auch noch zu popkulturellen Ikonen gebracht haben. Eine davon ist ganz sicher James Bond 007.
Der britische Gentleman-Spion mit der Lizenz zu Töten begann als kalter Krieger und schwang sich im Laufe der Jahrzehnte zum weißen Ritter der westlichen Welt auf, immer bereit eine globale Bedrohung zwischen zwei Vodka Martinis und ein par amourösen Abenteuern abzuwenden. Mehrere Darstellerwechsel überstand er ebenso mühelos wie diverse Zeitgeistphänomene, stets war er Herr der Lage und meisterte jede noch so aussichtslose Situation mit aufreizender Lässigkeit sowie einer gehörigen Portion Stil. Gälte es einen König des Eskapismus zu krönen, er wäre die erste und einzige Wahl.
Dieses Reich wurde nun eingerissen und bis auf die Grundmauern geschliffen und zwar, man kann sich nur verwundert die Augen reiben, ganz bewusst von den Machern selbst. Ob Cubby Broccoli seine Tochter per Dekret von den nächsten 5 Bondfilmen verbannt hätte, ist reine Spekulation, aber mit ihm wäre es sehr wahrscheinlich erst gar nicht dazu gekommen. Was war passiert?
Irgendwie hatte sich das je nach Standpunkt reinigende oder peinigende Gewitter schon angekündigt. Nicht erst als Danny Boyle konsterniert den Regiestuhl für Bond 25 räumte, weil er den Helden nicht sterben lassen wollte. Nein, diese Geschichte begann schon viel früher. Seit Daniel Craig 2006 die Rolle übernommen hatte, wurde vieles anders bei Bond. Die berühmte Gunbarrel fand sich plötzlich am Ende wieder, die Wodka Martini-Zubereitung war egal, Q und Moneypenny durften erst beim dritten Einsatz auftauchen und M ordnete einen potentiell tödlichen Schuss auf ihren besten Mann an. Zudem war unser stets so souveräner und abgeklärter Held plötzlich emotional und psychisch labil, liebte, hasste und grübelte wie im Shakespeareschen Drama. Das hatte etwas erfrischendes, freches, aber auch etwas beunruhigendes und glich dem Ritt auf der Rasierklinge.
Aber die Rechnung ging auf. Der anfangs verhöhnte und verschmähte Craig („Blond Bond“) war dabei so erfolgreich, dass er immer mächtiger wurde im Bondschen Kosmos. Auch früher schon wollten die Bondarsteller bei ihrer Agenten-Interpretation mitbestimmen, aber Cubby Broccoli rang das bestenfalls ein müdes Lächeln ab. Seine Tochter Barbara allerdings, die sich ganz persönlich für Craig eingesetzt hatte, lies ihren Hauptdarsteller immer mehr ins Machtzentrum von EON, seit SPECTRE wird er auch als Produzent geführt.
Eigentlich hätte dieser vierte Einsatz sein letzter sein sollen, aber mit dem Endergebnis des schwerfälligen, beinahe barocken Epos war trotz satter Gewinne keiner so recht zufrieden. Also griff Craig ein fünftes Mal zur Walther PPK, aber dieses Mal sollte es wirklich ein großes Finale werden. Und das ist es auch geworden, also groß und final. Fast drei Stunden Laufzeit, der Aston Martin DB5 im vollen Kampfeinsatz, deutlich breiter angelegte Auftritte klassischer Bondfiguren wie CIA-Kumpel Felix Leiter, MI6-Chef M mitsamt Sekretärin Moneypenny und Gadget-Magier Q, Locations aller Couleur (Eis, Strände, Wald, Meer) und Action, Action, Action. Ein prall gefüllter Bond-Präsentkorb, würdig eines runden Geburtstages oder eines gloriosen Renteneintritts. All das fühlt sich dennoch nicht immer wie ein typischer Bondfilm an, aber erstens ist man das von Craig inzwischen gewohnt und zweitens wird immer noch genug Genre-Glitter verstreut, um den Markenkern zu erhalten.
Beim Skript hapert es zwar mal wieder, aber auch das kennt man schon aus der Craig-Ära. Manches ist schwach entwickelt, nicht zu Ende gedacht, oder ignoriert schlicht die Gesetze von Logik und Stringenz. Exemplarisch dafür steht Bonds aktueller Widersacher Safin. Zwar hat man mit Rami Malek einen superben Darsteller gecastet, der den bedrohlichen Superschurken stimmlich und mimisch veredelt, aber leider bleibt das Drehbuch recht nebulös hinsichtlich einer nachvollziehbaren Motivation für sein perfides Treiben und gönnt ihm insgesamt auch zu wenige Auftritte. Das Christoph Waltz-Dilemma aus SPECTRE feiert hier fröhliche Wiederkehr.
Ein Wiederholungstäter im Craigschen Bond-Universum ist auch die Anbiederung an die aktuell zum Machtfaktor gereifte Political Correctness. So greift man die Zeitgeistdiskussionen um Bonds Hautfarbe und Geschlecht vermeintlich clever auf, indem man eine dunkelhäutige Doppelnullagentin (Lashana Lynch) mit der ikonischen Nummer versieht (Bond gilt mal wieder als verschollen). Was auf dem Papier wie eine glänzende Idee ausgesehen haben mag, wirkt im fertigen Film seltsam bemüht, ist letztlich ohne narrative oder dramaturgische Relevanz und könnte daher ersatzlos gestrichen werden, ohne den Film in irgendeiner Weise abzuwerten. Das ist doppelt schade, da einerseits Lashana Lynch erfrischend frech die Klingen mit ihrem Doppelnull-Vorgänger kreuzt und man andererseits mit Ana de Armas als CIA-Agentin Paloma einen absoluten Volltreffer landet, der leider nur Sidekick-Charakter hat. Ihre Szenen mit Craig sprühen vor Energie, Charme und Wortwitz. Von ihr hätte man gern mehr gesehen als das kubanische Action-Feuerwerk in der Filmmitte, aber wie bei Maleks Safin sind auch ihre Einsatzminuten streng limitiert. Dafür tritt diesmal Bonds MI6-Familie, bestehend aus M (Ralph Fiennes), Miss Moneypenny (Naomie Harris) und Q (Ben Whishaw), so richtig ins Rampenlicht und beschert dem Film ein gekonntes Reminiszenzen- und Hommage-Varieté zwischen humorvoll, melancholisch und schmissig.
Die enorme Lauflänge von beinahe drei Stunden vergeht dank des prall gefüllten Spektakels allerdings wie im Flug. Langeweile kommt jedenfalls keine auf. Die elaborierten Setpieces, Landschaften, Actionsequenzen, Stunts und diversen Nebenplots erschaffen einen Bondschen Rummelplatz bei dem für jeden Geschmack etwas geboten ist. Anders als beim teilweise behäbigen Vorgänger ist hier ständig was los. Allerdings kann man bei all den Wows und Ahs schon mal den Überblick verlieren, worum es eigentlich geht und auch die sich zuspitzende Dramatik in der Liebesbeziehung zwischen Bond und Madeleine will nicht so recht mit dem ganzen großkalibrigen Budenzauber harmonieren.
Man wird das Gefühl nicht los, hier alles auf einmal und gleichzeitig gewollt zu haben. Zu zeigen, dass man immer noch einen Film abliefern kann, der auch Roger Moore-Fans gefällt, aber die mit Craig begonnenen Veränderungen und Aufrauungen der Kanten sollten dabei keinesfalls über Bord gehen. Dazu musste nicht nur Bonds Innenleben nach außen gekehrt, sondern auch unbedingt ein großer Bogen geschlagen werden. Das von TV-Serien angestoßene und im Kino von Marvel perfektionierte serielle Erzählen wurde ja bereits bei SPECTRE zur obersten Maxime für die Craig-Ära ausgerufen - mit durchwachsenem Ergebnis. Irgendwie fühlt man sich bei Ansicht des Films an die Aussage des SPECTRE-Killers Mr White erinnert: „Sie sind wie ein Flugdrachen in einem Hurricane, Mr Bond.“
Wie also funktioniert Daniel Craig Abschiedsgala innerhalb der Serie? Eine Einordnung fällt schwer ob der überschrittenen Grenzen und gebrochenen Taboos.
NO TIME TO DIE ist sicher kein perfekter Vertreter innerhalb seines eigenen Kosmos, aber er lässt mindestens zwei Vorgänger seiner eigenen Ära recht locker hinter sich (QUANTUM OF SOLACE und SPECTRE) in punkto Schmiss, Unterhaltungs- und Schauwert. Die Kameraarbeit ist nicht so erlesen wie bei Roger Deakins in SKYFALL, dennoch haben auch Regisseur Cary Joji Fukunaga und sein Kameramann Linus Sandgren ein erlesenes Cinemascope-Auge, das Landschaften, Städte und Interieurs mit satten Farben, ausladenden Panoramen und enormer Tiefe veredelt. Ein optisches Fest, das zwingend auf einer großen Leinwand gefeiert werden sollte.
Die Actionsequenzen mögen nicht innovativ sein, aber auch sie bieten Überdurchschnittliches und vermitteln allesamt Druck, Tempo und Wucht. Zwar darf die QOS so anstrengend machende Handkamera ein zwei Mal aus dem Sack hüpfen, aber der Großteil ist ein audiovisuelles Spektakel, das auf Panorama statt Paranoia setzt. Bleibt nur noch das gesprochene Wort, auch das ein von unzähligen Onelinern und flotten Sprüchen zur Trademark geformtes Prunkstück. Und auch da hat man bei Bond 25 seine Hausaufgaben gemacht und eigens noch einmal die für ihren Wortwitz gefeierte Phoebe Waller Bridge drüber schreiben lassen. Die Dialoge wechseln zwischen heiter und sarkastisch, sind mal frech frotzelnd, mal bissig bösartig. Zwischenzeitlich wird es aber Skript-bedingt auch mal tiefschürfend und emotional, was dann schon weniger gut funktioniert und mehr nach dem etablierten Autorenduo Neil Purvis und Robert Wade klingt. Überhaupt ist der emotionale Kern das Kernproblem des Films.
Bonds Beziehung zur traumatisierten Psychologin Dr Madeleine Swan (Lea Seydoux) bestand schon in SPECTRE nur auf dem Papier und war nicht nur schlecht geschrieben, sondern litt auch unter der fehlenden Chemie der Darsteller Craig und Seydoux. In NO TIME TO DIE wird diese hölzerne Romanze nicht nur wiederbelebt, sondern dient vor allem als Fundament des auf der Gefühlsebene alles bisher bei Bond Dagewesene in den Schatten stellenden Finales. Dieses steht und fällt dann naturgemäß mit dem Funktionieren der Tiefe und Glaubwürdigkeit dieser tragischen Beziehung und da ächzt es trotz zarter Fortschritte nach wie vor im Gebälk. Das ist zu gleichen Teilen bedauerlich und ärgerlich und zwingt den in vielen anderen Sequenzen sehr kraftvollen Film auf der Zielgerade in eine dramaturgische Rutschpartie. Wenn man schon das enorme Risiko eingeht einen Mythos nicht nur anzugreifen, sondern auf den Kopf zu stellen, dann muss man das meisterlich anstellen, um damit durch zu kommen. Vertraut man dabei aber auf ein in dieser Hinsicht mediokres Skript und zwei zumindest nicht optimal harmonisierende Protagonisten, dann wird es schwierig. Wobei der bis dato nie gewagte Tabubruch auch bei idealen Vorraussetzungen auf Papier und Leinwand ein ebensolcher geblieben wäre. Daniel Craig und Barbara Broccoli dachten offensichtlich der Darsteller sei größer als die Figur, im Falle von James Bond ein fataler Irrtum, der offenbar mehr von Egomanie als von Empathie oder Strategie genährt scheint.
NO TIME TO DIE hätte ein großartiger Bondfilm werden können und über weite Strecken löst er auch das dafür nötige Ticket. Selbst ein eher schwammig erklärter Plan (irgendeine Biowaffe, die mit einem die Genetik attackierenden Virus die gesamte Menschheit bedroht, oder doch nur der Geldgier dient?) von einem motivisch diffusen Superschurken sowie ein mit Figuren und Episoden fast schon zu prall gefüllter Plot können die Bond-Achterbahn nicht aus den Schienen werfen. Dennoch reicht es nicht zum doppelten Looping. Womit wir beim letzten Akt angekommen wären, beim Finale Grande, bei Bonds Schwanengesang. Oder sollten wir besser sagen, Daniel Craigs Schwanengesang?
Vielleicht hätte man den mythischen Charakter der Bond-Figur nicht so leichtfertig abtun sollen, ganz sicher aber hätte man den Darsteller nicht über den Helden stellen sollen. Und vielleicht hätte man sich nicht vom grassierenden Virus der Endgameisierung und der Nolanisierung infizieren lassen sollen. Bond hat es lange vor deren Fußabtritten gegeben und bis zu diesem Film war es todsicher, dass er immer noch in seinen Aston Martin steigen wird, wenn man Iron Man längst (wieder) nur noch als knüppelharten Sportwettkampf kennt. Diese Gewissheit wurde nun zugunsten eines monolithischen Craig-Denkmals geopfert.
Mythen mögen nicht immer der Wahrheit entsprechen oder nur eine hohe Symbolkraft besitzen. Aber für DIE Verkörperung des Eskapismus in DER eskapistischen Kunstform ist diese Genetik essentiell. Jegliche Genmanipulation attackiert damit den Mythos selbst und ist, sofern man zu den erklärten Bewahrern gehört, eine sehr gefährliche, mindestens aber eine zutiefst irritierende Idee. Das macht NO TIME TO DIE noch nicht zu einem schlechten Film, aber die Büchse der Pandora ist nun geöffnet, mit allen sich daraus ergebenden Möglichkeiten, vor allem aber Fallstricken. Am Ende von NO TIME TO DIE heißt es wie immer: „James Bond will return“. Diesmal hätte es allerdings eines Zusatzes bedurft: „hopefully“.