Wer noch einmal Urlaub braucht, findet in „Gemini Man“ reichlich Inspiration. Ein wenig auf Deck einer Privatyacht ausspannen? Die Schönheit im Detail entdecken, während man durch die verschlungenen Gässchen des kolumbianischen Hafenorts Cartagena schlendert? Im Budapester Labyrinth ausgelassen mit Totenschädeln schmeißen? Oder einfach mal in einer Scheune auf dem Land im Heu liegen? Pünktlich zu jedem Aktwechsel hebt der Flieger ab und entführt uns an einen neuen Flecken unserer wunderbar vielseitigen Welt. Immerzu scheint die Sonne... und durchgehend ist Superstar Will Smith unser Tourguide, hautnah, als müsse man nur die Hände ausstrecken, um ihn anzufassen.
Auch wenn die allermeisten Kinos nicht dazu in der Lage sind, den Perfektionismus Ang Lees technisch umzusetzen: Für eine gewisse Sparte von Film sind die 60 (oder im Idealfall eben die nativen 120) Frames pro Sekunde in 3D ein phänomenaler Blick in die Zukunft. Dokumentationen aller Art, möglicherweise auch Found-Footage-Filme und ähnliche Experimentierformen würden auf Anhieb von einer solchen technischen Meisterleistung profitieren, nicht erst nach einer langwierigen Umgewöhnung. Vielleicht muss der Mensch noch vier bis fünf Generationen überwinden, um sich endgültig von dem Gedanken zu lösen, dass 24 Bilder pro Sekunde als Äquivalent für Kino stehen (ich für meinen Teil werde wahrscheinlich zeit meines Lebens in 24 Bildern denken, wenn ich die Leinwand betrachte).
Rein technisch handelt es sich jedenfalls um die vielleicht spektakulärste 3D-Demonstration seit zehn Jahren. Abgesehen von „Avatar“ hat wohl keine Projektion im Kino so überzeugend vorgegaukelt, dass wir in einen dreidimensionalen Schaukasten starren anstatt auf eine flache Leinwand. Schon der Establishing Shot lässt die Streben eines futuristischen Gebäudedachs in geometrischer Bahn wie einen Pfeil auf den Betrachter zeigen, bevor die erste Kamerabewegung dann auch noch demonstriert, dass mit den üblichen Bewegungsunschärfen und verfälschten Darstellungen von Farben diesmal nicht zu rechnen ist. Selbst Pop-Out-Effekte schmiegen sich organisch in das große Ganze ein. Näher war man nie dran an der Geschichte.
Die daraus resultierenden Nachteile sind gemeinhin bekannt: Man ist so nah an der Szene, dass man sich fühlt wie der Kabelträger am Set. Der hat zwar gewissermaßen eine sehr exklusive Sicht auf die Ereignisse, ihm fehlt aber die Gesamtübersicht. Da sind viele Bäume, aber kein Wald. Wenn man Will Smith schon auf die Schulter klopfen kann, während er mit dem Scharfschützengewehr auf einen fahrenden Zug zielt, dann ist man womöglich zu nah am Geschehen, als dass man das große Ganze erfassen, geschweige denn verarbeiten könnte.
Der technischen Komponente muss so viel Bedeutung beigemessen werden, weil sie möglicherweise entscheidend auf den mangelhaften Inhalt abfärbt. Obwohl der Regisseur nicht zum ersten Mal mit erhöhter Framezahl dreht, begründet er seine Entscheidung in diesem Fall damit, dass er der SciFi-Komponente, in diesem Fall dem digital verjüngten Duplikat des 51-jährigen Will Smith, jede Versteckmöglichkeit nehmen will. Das Ziel ist, den Smith aus Fresh-Prince-Zeiten zu einem realen Bestandteil des Jahres 2019 zu erklären. Lees Innovationsstreben besteht darin, auf ein in den letzten Jahren in Hollywood extrem stark gefördertes Toolkit zurückzugreifen, die visuelle Kosmetik aus dem Rechner nämlich, um ihr durch eigene Innovationen den finalen Schliff zu geben.
Ein Problem ist nun, dass die Verjüngungstechnik noch längst nicht so weit ist, dass sie dem 60/120-Bilder-pro-Sekunde-Test standhalten könnte. Selbst die realen Darsteller haben Mühe, gegen die entlarvende Technologie anzuspielen – Smith, Winstead und Owen spielen wie im Urlaubsmodus, als hätte man sie gerade auf einer privaten Erholungstour darum gebeten, mal eben ein kleines Schirmchendrink-Abenteuer fürs Fernsehen zu improvisieren. Was soll man da schon von einer Figur aus dem Rechner an Schauspielleistung erwarten? Solange Smith Junior einfach nur dasteht, ist alles in Ordnung, doch sobald sich seine Lippen bewegen und einzelne Partikel auf der Wange wächsern an Ort und Stelle verharren, ist die Illusion bereits dahin. Das Auge lässt sich eben schwer täuschen, wenn es um menschliche Gesichter geht. Zwar lassen blutunterlaufende Augen, eine runzlige Stirn und jugendliche Naivität für den kleinen Smith trotzdem irgendwie Empathie aufkommen; vielleicht rührt diese aber weniger aus dem SciFi-Thriller-Plot, sondern daraus, dass wir in das unschuldige, runde Bel-Air-Welpengesicht eine gute alte Zeit projizieren, deren Unschuld man nachtrauern möchte angesichts der pervertierten Situation des Kinos 25 Jahre später, in der er wiedergeboren wurde.
Und wie das eben so ist, wenn sich der Filmemacher ganz und gar auf diesen einen Aspekt konzentriert, wenn er alles darauf setzt, nur die Seele in dieser einen CGI-Kreation zu entdecken... er vernachlässigt alles andere. Für einen ehemaligen Meister des Kinos ist das, was Ang Lee mit „Gemini Man“ liefert, erschreckend banal. Mit gleichbleibendem Puls verschmelzen Eröffnung, Mittelteil und Finale zu einer Schauplatz-Rotation, die im verlässlichen 4/4-Takt auf einschläfernde Weise Dialog- und Actionszenen miteinander verkettet, ohne dass man in diesem Auf und Ab eine Dramaturgie ausmachen könnte – was dafür sorgt, dass selbst der Showdown wie eine x-beliebige Actionszene aussieht. Die Inhalte der vielen Gespräche auf Restaurant-Terrassen oder beim Kaffee am Frühstückstisch bestehen im besten Fall aus leeren Lagebesprechungen, in denen jede darauffolgende Szene bereits akribisch vorbereitet und somit ihrer Spannung beraubt wird. Im schlimmsten Fall wird Winstead von Smith Senior auf ungewohnt unbeholfene Art angemacht, Smith Junior legt trotz seiner professionellen Ausbildung das Gebaren eines aufmüpfigen 12-Jährigen an den Tag (was Smiths Synchronsprecher Jan Odle mit entsprechend quäkiger Stimmlage honoriert) oder Senior und Junior laufen gackernd um die Wette („wer als Eeeeeerster iiiist“). Von Seiten Owens, dessen Bösewicht aus einer Rippe Frankensteins geschaffen wurde, kommt hingegen herzlich wenig. Die Klon-Thematik ist für Lee augenscheinlich Mittel zum Zweck, um Smith in ein Mirror Match schicken zu können. Selbst ein primitiver SciFi-Kracher wie „The 6th Day“ hatte mehr Interesse an der Thematik als „Gemini Man“, der sich allenfalls oberflächlich mit den ethischen Fragestellungen beschäftigt, die sich aus dem Klonen eines Lebewesens ergeben.
Zumindest eine längere Actionsequenz mit einer Motorradverfolgungsjagd kann überzeugen, sofern man über die unnatürlich fließenden Bewegungen der Fahrer hinwegsehen kann. Hier nimmt Lee dank seiner technischen Möglichkeiten so manchem Action-Spezialisten die Butter vom Brot, wenn er halsbrecherische Kamerafahrten aus Egoperspektive über Mauervorsprünge und durch enge Gassen so drehen lässt, als säße er höchstpersönlich als Sozius auf dem Rücksitz. Und doch handelt es sich hier nur um eine Ausnahme unter vielen eher mittelmäßigen Rangeleien, die überdies aufgrund ihrer Sterilität trotzdem nicht an jüngeren Höhepunkten wie „Mission: Impossible – Fallout“ vorbeikommt.
Unter dem Strich ist „Gemini Man“ wohl Ang Lees schwächste Arbeit bisher. Ein Agententhriller, der sich die Zukunft auf die Flagge geschrieben hat und ihr inhaltlich längst nicht mehr genügen kann. Die Perfektionierung des Details erfordert eben Opfer, und wenn diese auch in der Vernachlässigung von allem anderen liegen. Die erste Labormaus stirbt zumeist einen grauenvollen Tod; bleibt zu hoffen, dass ihre Artgenossen von den Erkenntnissen aus den frühen Experimenten profitieren können.