… und am Anfang war die Dönerbude. Zwei junge Männer (Reza Brojerdi und Erkan Acar), offensichtlich mit Migrationshintergrund, debattieren angeregt darüber, ob die Zusammenstellung der Zutaten eines Döners Auswirkungen auf seinen Geschmack haben kann oder ob es ausschließlich um die Qualität der Zutaten geht. Wir stellen schnell fest: Auch ein Vierteljahrhundert nach „Pulp Fiction“ (oder 20 Jahre nach Til Schweigers Tarantino-Replik „Der Eisbär“) scheint deutsches Filmemachen seine Identität immer noch an amerikanischen Kultfilmen der Neunziger festmachen zu wollen. Man unterliegt hierzulande offenbar immer noch dem Irrglauben, einmal den Burger aus den Fettgriffeln gerissen und einen Döner reingedrückt, schon sei etwas „Eigenes“ geschaffen - mit dem Potenzial, die deutsche Filmkultur aus dem Dornröschenschlaf zu wecken. Doch seht nur, die Kamera fährt zurück und offenbart, dass der vermeintliche Smalltalk über Nichtigkeiten inmitten von blutüberströmten Leichen stattfindet, die auf dem Boden verteilt sind. Wir fühlen uns in unseren Eindrücken mehr als bestätigt.
Und das war noch nicht alles. Das Drehbuch wird nun kapitelweise aufgefaltet wie ein Schmierzettel. Die Kapitel haben sogar Namen. „Das Waisenkind & Der Bodyguard“, steht plötzlich in fetten gelben Kill-Bill-Lettern über den Bildschirm verteilt, um den Szenenwechsel zu markieren und die Aufmerksamkeit auf die narrative Struktur zu lenken. Tarantino, ohne Zweifel. Der venezolanische Wahlberliner Adolfo J. Kolmerer sieht sich in einer Schere gefangen zwischen dem Anspruch, the Next Level of German Movie Making zu erklimmen und den Anstrengungen, die Stolperfallen der Postmoderne hinter sich zu lassen. So lange die Zusammenhänge zwischen den kontextlos eingeführten Subplots noch nicht hergestellt sind, schleichen sich sogar Längen ein: Hier erscheinen längst nicht alle Handlungsstränge gleichermaßen interessant wie beim großen Vorbild. Die Einführung des Waisenkinds (Xenia Assenza) und des Bodyguards (David Masterson) ist ausgesprochen zäh und verglichen mit einem „Hattori Hanzo“-Exkurs enttäuschend unexotisch, sie benötigt außerdem weit mehr als nur eine Szene Anlauf, um irgendwann doch irgendwie interessant zu werden. Immerhin.
Das Schicksal der Döner-Brüder hingegen entwickelt seinen Drive ungleich schneller, sobald sie nämlich mit den Meta-Grenzen ihres Daseins konfrontiert werden und vergeblich versuchen, diese zu durchbrechen. Die Erkenntnis, dass sie wie Marionetten von einer übergeordneten Macht gesteuert werden, dämmert ihnen aufgrund ihres geringen Intellekts nur langsam, was für den Zuschauer mit einer lustvollen Verzögerung humoristischer Szenen verknüpft ist, dem retardierenden Moment der Begriffsstutzigkeit der armen Tore sozusagen. Je länger Javid und Tan nicht begreifen, wie ihnen geschieht, desto witziger die eigentliche Ausführung des Plot Points. Wenn die Beiden das Drehbuch ihres Lebens argwöhnisch umkreisen wie Affen eine Banane mit Faulstellen, könnte man bei diesem Naturschauspiel stundenlang zu sehen. Und doch, der Anspruch auf etwas Neues wird längst noch nicht erfüllt, denn ein derartiges Spiel mit den Mechanismen des Films wird in Deutschland nicht zum ersten Mal imitiert.
Aber der Schmierzettel, auf dem das Drehbuch mit seiner anfangs so winzig erscheinenden Idee niedergeschrieben ist, entpuppt sich langsam als Panoramaposter, wenn nicht sogar als Landkarte. Sobald der Zahnarzt und Hobbyautor Arend (Alexander Schubert) ins Spiel kommt, beginnt der echte Drehbuchautor Arend (aha) Remmers sich selbst zu reflektieren und Meta-Kommentare zur eigenen Arbeit auszustreuen. Er übernimmt in einem inzestuösen Akt gewissermaßen die Aufgaben der Filmkritiker und beurteilt das eigene, unvollendete Werk, noch bevor der Kritiker den Rotstift zu greifen bekommt. Wie gesagt: Selbst dieser freche Blick hinter die Meta-Gardinen ist für deutsches Krimi-, Thriller- und Comedy-Kino kein Neuland, doch anders als die genügsamen Exemplare dieser Art des längst veralteten postmodernen Films hört dieser gar nicht mehr auf, sich in den Wogen aus Verhohnepiepeln und Glorifizieren der eigenen Arbeit zu wiegen, während Waisenkind und Bodyguard diverse Serienkiller-Comicreliefs in skurrilen Kurzepisoden abgrasen. Und man beginnt fast zu glauben, dass „Schneeflöckchen“ mehr kann als die anderen.
Das Drehbuch wird quasi vor den Augen des Zuschauers permanent modifiziert, was schließlich zu einem zerstückelten Seherlebnis führt, das aber immer wieder für Überraschungen in Form unvorhergesehener Wendungen gut ist. Aktuelle Blockbuster-Trends werden durch den Fleischwolf gedreht, filmische Symbolik wird zunächst analysiert und dann hinterrücks über den Haufen geschossen. Es dauert relativ lange, aber dann beginnt man zu begreifen: Diese verfilmte Autorenkrise ist gar nicht so verzweifelt wie sie vorgibt zu sein, sie verfügt tatsächlich über einen Masterplan, den mit allen Wassern gewaschenen Zuschauer wieder mit frischem Blut zu besudeln, ihn quasi live und direkt völlig an der Nase herumzuführen. Dabei geht es nicht um Whodunits und Whatdoesitmeans, sondern eigentlich nur um einen Kommentar zu Status Quo mit Ausblick auf eine bessere Zukunft: Ja, die 90er, die 00er und ein gewisser Anteil der 10er Jahre waren scheiße, aber alle Zeichen deuten auf Besserung.
So darf man also doch noch konstatieren: Was „Achteinhalb“ für Frederico Fellini war, ist „Schneeflöckchen“ für den deutschen Genrefilm: Ein psychoanalytisch motivierter Ausbruchsversuch aus der selbstverschuldeten Schaffenskrise. Diesmal bleibt der blinkende Cursor nicht über dem leeren Blatt Papier stehen: Er bewegt sich und produziert endlich Buchstaben.