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Review

2001 - 2005

Alle Menschen sind sterblich.
Sokrates ist ein Mensch.
Sokrates ist sterblich.


Die Logik des Aristoteles bricht sich in Form eines Syllogismus. Zwei unumstößliche Urteile führen zu einem dritten Urteil, dessen Existenz nach logischen Kriterien nicht zu leugnen ist. Eine emotionslose Operation des Verstands, die sich hier zur obersten Prämisse einer Dramaserie erhebt. Was kann dies anders als ein Paradoxon sein? Doch es ist keines; vielmehr ist diese trockene Feststellung von Logik ein Indiz dafür, dass Alan Balls “Six Feet Under” weit mehr sein will als TV-Unterhaltung. Es handelt sich um ein in Film und Fernsehen bis dato unerreichtes Ereignis, den sterblichen Menschen aus seinem Alltag zu reißen und ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Ihm vorzuhalten, was er in Wirklichkeit ist: vergänglich.
Einzig Karl Popper und sein Falsifikationsprinzip können sich theoretisch einen letzten Funken Hoffnung bewahren, denn ihm zufolge ist jede Theorie nur auf unbestimmte Zeit gültig. Wenn irgendwann einmal der Fall eines unsterblichen Menschen einträte, stünde die logische Gleichung um den Menschen Sokrates auf wackligen Füßen. Doch mal abgesehen von der immensen Unwahrscheinlichkeit dieses Falls selbst nach Popperschen Kriterien: ist es nicht die reinste Ironie, dass die Gültigkeit von Theorien demzufolge genauso vergänglich ist wie die menschliche Hülle?

Der Mut, mit dem Alan Ball sein Konzept um eine Bestatterfamilie aufzieht, kann nicht genug gelobt werden. “Six Feet Under” ist in seiner Anlage kommerzielles Gift. Wie kann sich eine solche Serie über Wasser halten in einem Teich der Unterhaltung, der Ablenkung von Problemen um die graue Tristesse der Normalität? Das ist die Frage. Der Mensch geht arbeiten, er kehrt heim zu seiner Familie oder in seine Single-Wohnung, er unterhält soziale Kontakte in einem Netzwerk von Menschen, da er auf Sozialität angewiesen ist. Im Fernsehen sieht er Nachrichten von Krieg und Tod, abstrahiert bis ins Unvorstellbare, kaum noch nachzuvollziehen, was der Tod wirklich bedeutet, in Abwechslung mit Werbeblöcken, die über Imperative zum Kauf von Produkten überreden wollen. In dem Leben, das er seinen Alltag nennt, verdrängt, selektiert und sortiert der Mensch Reize, die ihm wichtig erscheinen, um sich ein möglichst harmonisches Gesamtbild zu schaffen. Die Verdrängung der Tatsache des Todes gehört einfach dazu. Das Wissen um die eigene Sterblichkeit ist dem Menschen alleine vorbehalten, es ist ein menschliches Charakteristikum. Doch um diese Gabe hat er selbst nie gebeten; im Gegenteil kämpft er mit Händen und Füßen darum, sie zu vergessen. Unter anderem durch TV-Unterhaltung. Also, was zum Teufel hat eine TV-.Serie mit diesem Gegenstand im Fernsehen verloren. Und noch viel wichtiger: Wie konnte sie so erfolgreich sein?

Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, aber es ist mir verdammt recht, denn lange hat man nichts mehr gesehen, das jeden einzelnen Zuschauer persönlich so berührte und ihm Selbsterkenntnis brachte. Wo andere Serien ihrer Art an der Mattscheibe aufhören zu existieren, greift diese durch das Glas hindurch und stößt die geballte Faust mitten in die Brust und den Kopf des Zuschauers, um Herz und Hirn zu stimulieren. Man wird berührt, oft auch sehr unangenehm, ganz besonders im durch Worte definitiv nicht zu beschreibenden Finale. Es wird verflucht persönlich in jeder erdenklichen Hinsicht.
Möglich, dass die Zuschauer diesen konkreten Angriff auf ihre Gefühle deswegen akzeptiert haben, weil sie durch das übrige Fernsehentertainment übersättigt waren. Es ist kein Geheimnis, dass die Qualität des TV-Angebotes in den letzten Jahren stark gesunken ist. Irgendwann tritt eine Überreizung durch billige, oberflächliche Fließbandware ein und man verlangt nach Qualität - “Six Feet Under” könnte davon profitiert haben und hat sich eine Nische gesucht, wider aller Gesetze überlebt. Und diese unerwartete Lebensspende wurde nicht missbraucht, denn nach fünf Staffeln erfolgte im Jahre 2005 auf dem Höhepunkt das Aus. Die Serie verriet nicht ihr eigenes Konzept und sorgte gemäß ihrer Thematik für einen runden Abschluss. 2001 - 2005... Rest in Peace. Ohne lebensverlängernde Maßnahmen.

Nun ist es Zeit, den Verstorbenen zu ehren.
Alan Ball wurde durch den Verlust seiner Schwester zu “Six Feet Under” inspiriert. Von Anfang an sollte man sich mit dem Tod auseinandersetzen, und so bekommen wir die Familie Fisher niemals komplett zu Gesicht. Das Oberhaupt verstirbt noch im Opener der ersten Folge bei einem Unfall während eines Leichentransports. Schon hier ist er getrennt von der Familie und wird sie niemals wiedersehen. Es geht bereits jetzt um nichts weiter, als eine Familie mit ihren Trümmerhaufen zu beobachten. Die Szenen reihen sich in unterschiedlichen Zeitabständen aneinander; manchmal parallel, manchmal um Minuten, Stunden, Tage oder Wochen versetzt. Hinweise darauf gibt es nicht, es geht einfach immer weiter und gezeigt wird das Wichtigste - am Ende einer Staffel und (meistens) 12 Folgen ist insgesamt etwa ein Jahr vergangen.

Es versammeln sich eher unbekannte Schauspieler vor der Kamera; Serienkomparsen, Theaterschauspieler. In Nebenrollen tummeln sich gerade im späteren Verlauf diverse Stars, etwa Kathy Bates (die auch in einigen Episoden Regie führte), James Cromwell, Ed Begley Jr., Lili Taylor oder Mena Suvari - doch den harten Kern bestreitet man mit eher unbekannten Gesichtern. Die Fishers mit Mutter Ruth (Frances Conroy), den Söhnen Nate (Peter Krause) und David (Michael C. Hall) und der Tochter Claire (Lauren Ambrose); Präparator Frederico Diaz (Freddy Rodríguez) mitsamt Familie; Nates Freundin Brenda (Rachel Griffiths) mit ihrem Bruder (Jeremy Sisto) und Davids Freund Keith (Mathew St. Patrick). Das ist der Kern, um den sich im Laufe der fünf Jahre immer wieder Bekannte verabschieden oder neu hinzukommen.

Alles beginnt mit einem von Vanitassymbolik gespickten, kunstvoll montierten Vorspann. Erst dann der Prolog, in dem stets ein Mensch stirbt, dessen Todesumstände und Bestattung in der nun folgenden Episode eine Rahmenhandlung zieren, anhand derer sich die privaten Probleme des Fisher-Clans noch besser verdeutlichen lassen.

Wird in den ersten Folgen noch der zynische Blick auf das Geschäft mit dem Tod in den Vordergrund gerückt, so verschwindet dieser Ansatz recht schnell zugunsten des Dramagehalts, der sich in unzähligen zwischenmenschlichen Episoden entwickelt, die alle Figuren zunächst unheimlich detailgetreu charakterisieren, sie im Wortsinne zu Individuen machen, um sie dann fortlaufend zu verändern durch die Erlebnisse in den fünf Jahren, denen wir beiwohnen dürfen.
Zu einfach hätte man sich vorstellen können, dass “Six Feet Under” tief in die Welten des schwarzen Humors versinkt und ehrlich gesagt hätte ich das ursprünglich auch erwartet. Die Arbeit mit dem Tod entwickelt auf Dauer natürlicherweise einen Hang zum Zynismus. Das ist ein Schutzmechanismus, um sich nicht mit der eigenen Endlichkeit auseinander setzen zu müssen und um nicht in Trauer und Mitleid mit den vielen Menschen zu ertrinken, die täglich im Bestattungsinstitut zu Gast sind, noch von frischer Trauer gezeichnet.
Auch ich selbst hatte wohl irgendwie die leise Hoffnung, es würde sich um eine von schwarzem Humor dominierte Serie handeln, damit ich mich quasi “aus der Verantwortung ziehen” könnte. Doch Alan Ball läge nichts ferner als diesen bequemen Ausgang zu wählen, und so integrierte er David ins Spiel, den direkten Erben der Firma seines verunglückten Vaters. Seinen eher rebellischen Bruder Nate, der wie durchs Schicksal geleitet entgegen seiner ursprünglichen Absichten ins Geschäft einsteigt, und seinen Mitarbeiter Frederico, zwingt er immer wieder dazu, Respekt für die Toten zu zeigen, nicht in ihrer Gegenwart über Banalitäten zu sprechen. So sichert sich Ball zum einen den ernsthaften Umgang mit dem Thema, zum anderen charakterisiert er David hiermit bereits: Er wird zum Spießer.

Der Zuschauer gewöhnt sich langsam, aber behände an die oft sehr schrägen Figuren, die da alsbald auf dem Bildschirm auftauchen. Mutter Ruth ist sehr lange Zeit geradezu unerträglich in ihrer quäkigen, konservativen Art, David ist nicht nur stocksteif, sondern auch noch schwul, und Claire ist gerade bekifft, als sie die Nachricht vom Tod ihres Vaters erhält und wir sie zum ersten Mal sehen. Nate im Übrigen hat in diesem Moment Sex mit einer Unbekannten. Die Charaktere sind eigenwillig und zäh, nicht durchgehend liebenswert. Zwar wirkt anfangs noch (Frede)Rico, der Leichenpräparator so, wo er doch mit seinem jugendlichen Aussehen und ewigen Strahlen eine Art neuer Michael J. Fox zu sein scheint, doch auch dies währt nicht lange, da er bald schon regelmäßig aus der Haut fährt, egozentrisch wird und latente Schwulenfeindlichkeit andeutet.

Doch so fehlerhaft die Charaktere auch ausfallen, so realistisch wirken sie auch im Umkehrschluss und schnell übermannt einen dann eine Hassliebe zu ihnen allen. Man möchte in ihrer Nähe sein und an ihrem Leben teilhaben. Nate entwickelt sich dann zum geheimen Hauptdarsteller und zur primären Identifikationsfigur. Seine Handlungen wirken noch am meisten rational, doch auch er ist beileibe nicht perfekt.

Getragen von guten Schauspielern gewinnen jene Hauptfiguren soweit an Glaubwürdigkeit, dass die halbe Miete bereits gezahlt ist, denn wenn die Figuren funktionieren, müssen es fast zwangsläufig auch die Konflikte zwischen ihnen. Und schauspielerisch mag “Six Feet Under” nicht die Avantgarde sein, aber als sehr gut, stellenweise dann sogar genial, sind die Leistungen der Darsteller schon zu bezeichnen. Es ist anzuzweifeln, ob auch nur einer von ihnen zukünftig in größeren Produktionen Fuß fassen können wird - Michael C. Hall etwa hat sich wieder ins Theater zurückgezogen - doch innerhalb dieser Serie sind sie allesamt ganz einfach unaustauschbar. Was der Konzeption zugute kommt, denn sollte in den fünf Jahren einer von ihnen sterben, könnte er nicht einfach ersetzt werden wie - um beim Beispiel zu bleiben - ein Michael J. Fox in der Sitcom “Chaos City” durch Charlie Sheen. Er wäre weg - und es würde weh tun.

Ein wesentliches Problem von TV-Serien, die realistisch sein wollen, ist es, die Ereignisse sich nicht überschlagen zu lassen. “24" kann ein Liedchen davon singen. Es muss ja ständig etwas geschehen, damit es interessant bleibt, und so entsteht selbst in Dramaserien die Tendenz, zu übertreiben und das Leben der Figuren auf den Kopf zu stellen. “Six Feet Under” löst das Problem über weite Strecken hervorragend. Lediglich ein größeres Problem sehe ich, und das liegt in dem prozentualen Vorkommen von Schwulen. Zwar ist David als einer der Hauptcharaktere schwul und durch ihn und seinen Partner Keith wird man selbstverständlich auch in die Metiers geführt, in denen Schwule gehäuft vorkommen, doch abgesehen von Handlungsorten wie Gay-Bars entpuppt sich scheinbar auch im normalen Alltag der Fishers gefühlt etwa jeder zweite Neuling als schwul oder zumindest bisexuell. Das Thema ist einfach einen Schlag zu dominant von der reinen Häufigkeit. Andererseits wird dieses Manko allerdings dadurch ausgeglichen, dass das Thema hier wirklich absolut effektiv auf die Toleranzschiene geschoben wird. Fast parallel zum Umgang mit toten Körpern (der Präparationsraum dient ebenso oft als Unterhaltungsraum wie etwa die Küche und so bekommt man sehr oft den Blick auf nackte, tote Körper) werden schwule Beziehungen einfach normalisiert. Keith und David küssen sich liebevoll, haben Sex und verhalten sich einfach wie zwei Menschen in einer Beziehung, und was möglicherweise anfangs noch ein abwehrendes Gefühl erzeugen könnte, weicht mit zunehmender Häufigkeit des Gesehenen Toleranz auf gleichberechtigter Ebene mit einem Hetero-Pärchen, zumal die Probleme hier wie dort die gleichen sind und damit auch für Heterosexuelle Identifikationspotenzial in Davids Storylines existiert.

Dem hervorragenden Auftakt mit der ersten Staffel folgt leider ein längerer Durchhänger über die zweite und dritte Staffel hinweg. Man hat sich gerade erst an die Charaktere gewöhnt und ihre Verhaltensweisen ins Herz geschlossen, da veranstalten sie plötzlich unvorstellbare Dinge, die wiederum sehr gewöhnungsbedürftig sind und die man oft einfach ablehnt. Das eigene Wesen behalten sie zwar bei, aber irgendwie häufen sich die Kuriositäten und man weiß nicht recht, was man davon halten soll. Hinzu kommt, dass neue Figuren manchmal, aber nicht immer allzu sinnvoll eingeführt werden. Mit dem kauzigen Bestattergehilfen Arthur (Rainn Wilson, “Almost Famous”, “House of 1000 Corpses”) hätte man zum Beispiel sicher noch mehr anfangen können. Stillstand gibt es aber dennoch nicht. Das Leben schreitet unermüdlich voran und eben auf sein Ende zu.

In Sachen Narration wird erfolgreich mit lebendig gewordenen Gedankenspielen der Figuren experimentiert. Wo handlungstechnisch in der Realität nichts passiert, erscheinen den Fokuspersonen Verstorbene als Projektion ihrer eigenen Gedanken. Deutlich sichtbar handelt es sich nicht um “Geister” der Verstorbenen, sondern um rein neuronale Halluzinationen derer, die da gerade einen inneren Konflikt zu bewältigen haben. Der in Episode 1 verstorbene Nathaniel Fisher (Richard Jenkins) bekommt so noch mehrere Auftritte in den Gedankenspielen der Akteure. Fantastisch ist hier vor allem die Qualität der inneren Monologe, denn der tote Fisher-Vater (und alle anderen Toten) erscheint nicht als der, der er war, sondern als das, wofür sein Erzeuger sie gerade braucht. David wird von seinem Vater beispielsweise oft als Schwächling beschimpft, aber nicht, weil er dies zu Lebzeiten getan hätte, sondern weil David gerade mit seinen Komplexen zu kämpfen hat. Oft gleiten diese Erscheinungen ähnlich dem Kinofilm “Eternal Sunshine of a Spotless Mind” in den Horrorbereich, weil die Dialoge so treffend die Ängste der Charaktere beschreiben, dass es wahrhaft gruselig wird (etwa das “Mein Gesicht fällt mir immer ab”, als David mit zwei harten Schicksalsschlägen zu kämpfen hat, die sich zu einer bedrohlichen Masse summieren).

Mit der vierten Staffel beginnt ein merklicher dramaturgischer Anstieg auf einen eventuellen Klimax, der dann auch tatsächlich zum Ende der fünften Staffel eintritt und das Ganze so perfekt abschließt, dass es mit Worten einfach nicht wiederzugeben ist. Ich will es dennoch versuchen. Nachdem sich die Storyline wieder in absolut glaubwürdige Bahnen entwickelt hat und vor allem dadurch glänzt, dass sie mit ihrem radikalen Minimalismus doch so sehr bei der Stange hält und Langeweile praktisch ausschließt, behält man sich doch vor, alle Darsteller sterben zu lassen. Solange man an die aristotelische Logik glaubt, sollte dies nun kein Spoiler gewesen sein, denn Alan Ball hat uns nichts Neues damit erzählt, dass wir alle sterben. Die Serie schließt mit einer Collage, von der ich folgendes behaupte: Nie hat mich etwas tiefer getroffen und schmerzlicher berührt als diese Minuten. Die Minuten, in denen gezeigt wird, wie die Menschen sterben, an die man sich fünf Jahre lang gewöhnt hat. Da ist ein Auto, das einen Highway entlangfährt im sich anbahnenden Dämmerlicht, links und rechts Wüste, vorne der Horizont. Während Sias “Breathe Me” in hellem Klang erleuchtet, werden weiche Collagen eingeflochten, die in die Zukunft schauen. Wir sehen, wie die Hauptcharaktere über die Jahre hinweg sterben, einer nach dem anderen, jeder für sich allein. Dann ein Fade to White, wie in all den Expositionen mit all den Menschen, die gestorben und bei den Fishers präpariert wurden. Das ist der Moment aller Momente - schwer vorstellbar, dass man ihn jemals wieder vergessen wird.

Man möchte nun fragen, wozu das alles. Mit welchem Sinn wird uns hier der Tod vor Augen geführt in einer, das möchte ich nochmals betonen, zwar traurigen, aber sicher nicht deprimierenden Serie, die freilich nicht nur den Tod, sondern auch das Leben mitsamt seinen guten und schlechten Seiten zu bieten hatte?
Man gibt uns darauf keine Antwort. Wie wir darauf nun reagieren möchten oder müssen, ist jedem Einzelnen selbst überlassen. Dies hier ist nur der Stein des Anstoßes, darüber nachzudenken.

Danke dafür.

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