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Review

Bevor Roel Reiné zum Spezialisten für stylische Direct-to-Video-Sequels wurde, macht er sich in seiner niederländischen Heimat einen Namen, erst mit mehreren Fernseharbeiten, später mit seinem ersten Kinofilm „The Delivery“, für den er beim Nederlands Film Festival den Golden-Calf-Award für die beste Regie gewann.
Dass ein entsprechender Preis für das beste Drehbuch nicht drin war, merkt man allerdings schon beim Einstieg. Da brüllt das junge Ehepaar Alfred (Fedja van Huêt) und Anna (Esmée de la Bretonière) aus seinem Auto verzweifelt auf den besten Kumpel Guy (Frederick Stuart) ein, denn der britische Hallodri fährt mit einem Bulli mit Kopfhörern auf lauter Musik auf den Ohren (!) und mit geschlossenen Augen (!!) auf der Gegenfahrbahn in der falschen Richtung (!!!) – mit erwartbarem Ergebnis: Als ein anderes Auto kommt, bleibt nur ein waghalsiges Automanöver, der Bulli crasht und geht natürlich sofort in Flammen auf, nachdem sich Guy aus dem Wrack befreit hat. Er hat ja auch nichts Wichtiges transportiert, nur eben die Ware für eine neue Geschäftsidee des Trios, die jetzt nur noch Asche ist, weshalb die drei bei einem Kredithai jetzt mächtig in der Kreide stehen. Kann ja mal passieren.
Aus ihrer Unizeit kennt Anna noch den Gangsterboss Spike (Rik Launspach), der immer wieder Leute für Kurierfahrten sorgt. Alfred und Guy sollen Ecstasy-Pillen im Wert von 25 Millionen Dollar quer durch Europa nach Barcelona transportieren, wobei sie aus einem handlungslogisch nur so semi-sinnigen Grund immer wieder an verschiedenen Checkpoints anhalten müssen, wo Spike sie dann via Telefonzelle kontaktiert. Allerdings behält der Schlingel dann gleich auch noch Anna als Faustpfand, was den Kontrolletti-Aufwand etwas übertrieben erscheinen lässt, aber so muss das halt sein, damit die High-Concept-Prämisse herbeigeschrieben werden kann.

Der Zeitplan ist immerhin komfortabel und so sieht die Fahrt trotz Grenzübertritten gut schaffbar aus. Doch dann fällt den beiden ein Autowrack vor die Füße, in dem neben dem schwer verletzten Fahrer auch die attraktive Loulou (Aurélie Meriel) ist, für die sich Guy sofort interessiert. Sie nehmen die beiden mit, müssen jedoch feststellen, dass dies Abtrünnige einer Anti-EU-Terrororganisation sind, deren Kameraden jetzt Jagd auf sie machen…
Wie man schon merkt: Hier muss Kollege Zufall echt Überstunden schieben, um die ganze Kiste in Gang zu bringen, denn in dem Stil geht es munter weiter. Auf Loulous Geheiß versucht man einen Mordanschlag auf eine EU-Abgeordnete zu verhindern, was misslingt, aber deren Enkelin beschreibt der Polizei aus kaum nachvollziehbaren Gründen Alfred, Guy und Loulou als Täter, nicht etwa den Typen, der geschossen hat. Noch dazu scheinen die Hauptfiguren bisweilen mit dem Klammerbeutel gepudert zu sein, etwa wenn wie nach dem zwischenzeitlichen Verlust ihrer Ware Kieselsteine als Ecstasy-Pillen ausgeben wollen. Wie man bekanntermaßen weiß, checken Drogendealer die Ware nach der Übergabe ja nie, weil sie so vertrauensseelige Gesellen sind. Einige inszenatorische Klopse sind verzeihlicher, weil sie offensichtlich dem eher knappen Budget geschuldet sind: So stürzt das Autowrack mit Loulou und ihrem Kompagnon nominell von einer nahen Brücke, auf dem Bildschirm sieht man es aber de facto in gerade Linie aus den Baumkronen herunterkrachen. Weniger entschuldbar dagegen ist die handwerkliche Kuddelmuddel-Auflösung des Finales, die sich Reiné leider doppelt ins Stammbuch schreiben muss, weil er nicht für als Regisseur, sondern auch als Co-Editor für den Film verantwortlich zeichnet.
Von diesem finalen Schnitzer mal abgesehen ist „The Delivery“ allerdings eine ziemlich gute und durchaus zu Recht ausgezeichnete Visitenkarte für seine Regiefähigkeiten. Die Actionszenen sind im Rahmen des Budgets ansprechend inszeniert, darunter der Beschuss der Protagonisten durch einen Scharfschützen, einige rasante Autofahrten, ein paar Explosionen, das Umfahren einer Telefonzelle oder eine Prügelei. Optisch ist „The Delivery“ auch hübsch anzusehen, allerdings auch klar seiner Entstehungszeit verhaftet, in der sich viele Action- und Coming-of-Age-Filme an der Technoszene orientierten. Also tragen die Figuren gerne Raver-Outfits, besuchen entsprechend Clubs und im Hintergrund dudelt ein teilweise von Tom Holkenborg a.k.a. Junkie XL verantworteter Soundtrack, der „The Delivery“ als potentiellen Lieblingsfilm der Technoschlümpfe prädestiniert. Der entsprechende Einfluss des Musikfernsehens schlägt sich in den Kamerawinkeln und einigen visuellen Spielereien nieder – hauptverantwortlich für die Kamera war Director of Photography Mick Van Rossum, doch auch Reiné war (wie bei vielen seiner Filme) ebenfalls als Kameramann an „The Delivery“ tätig.

Darüber hinaus nutzt Reiné, der das Drehbuch gemeinsam mit David Hilton schrieb, das Szenario für ein paar veritable Spannungspassagen, etwa wenn die Protagonisten durch einen Umweg nur ein knappes Zeitlimit bis zum nächsten Checkpoint haben, eine Telefonzelle von einem Scharfschützen belagert wird oder eine andere zerstört ist, sodass nicht sicher ist, ob sie den nächsten Anruf annehmen können. Allerdings findet die Spannung eher auf einer handwerklichen als auf einer emotionalen Ebene statt, was daran liegt, dass keine Figur wirklich sympathisch ist. Der ermittelnde Polizist, der sowohl den Attentäter als auch das Schmugglertrio verfolgt, ist ein windiger Arschkrampen, der sich eine Prostituierte aufs Zimmer bestellt und deren Preis mit seiner Polizeimarke drückt. Guy ist in jeder Hinsicht wahlweise ein Trottel oder ein Arschloch, Alfred ein weinerlicher Meckerpeter, über Anna findet man später unvorteilhafte Dinge heraus und Loulou ist eine ansatzweise toughe, oft aber auch reichlich unverantwortliche Querulantin.
Dass viele offizielle Filmposter sie mit der Wumme in der Hand zeigen, der Werbespruch auf dem deutschen DVD-Cover dazu noch Parallelen zu Lola (aus „Lola rennt“), Nikita und Lara Croft zieht, das darf dann gern als irreführende Werbung abgetan werden. Denn Aurélie Meriel spielt die Figur nicht als coole Actionheldin, sondern als junge Aktivistin, die sich mit den falschen Leuten eingelassen hat und nun ihr Möglichstes tut, aus der Sache heil wieder rauszukommen. Das macht Meriel auch ziemlich gut, während Fedja van Huêt in peinliches Overacting verfällt und Frederick Stuart auch eher unbeholfen wirkt. Esmée de la Bretonière hat kaum Screentime, während Leute wie Rik Launspach und Hidde Maas darstellerisch auch nicht groß gefordert sind, aber immerhin Charakterfressen die Kamera halten können.

Aus dem schmalen Budget kann Roel Reiné einige gute Action- und Spannungsmomente herauskitzeln, Style hat „The Delivery“ durchaus auch, wenngleich sehr einen sehr zeitgeistigen, der ihn im Kino um die Jahrtausendwende verortet. Dummerweise hält das Drehbuch da nicht Schritt, wirkt es doch bisweilen arg konstruiert und wenig logisch, hat kaum sympathische Figuren parat und holt bei weitem nicht das Maximum aus seiner reizvollen High-Concept-Prämisse heraus. Als Frühwerk eines späteren B-Stilisten ist „The Delivery“ immerhin halbwegs interessant, aber kein allzu doller Film.

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