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Sarrazin-Debatte bei "Anne Will" Jetzt geht's erst richtig los

Tagelang überschlug sich die politische Elite in ihrer Empörung über Thilo Sarrazin - und jetzt? Bei "Anne Will" flaute der Proteststurm über den Polit-Provokateur merklich ab. Und plötzlich kann sie losgehen, die ernsthafte Integrationsdebatte.
Von Reinhard Mohr
Autorin Necla Kelek bei "Anne Will": Geistige Ermattung und müde Augen im Sarrazin-Talk

Autorin Necla Kelek bei "Anne Will": Geistige Ermattung und müde Augen im Sarrazin-Talk

Foto: NDR
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

Mehr als eine Woche lang tobte ein heldenhafter Kampf gegen vermeintlichen Antisemitismus, gegen Rassismus und Menschenverachtung - in Deutschland natürlich, nicht etwa in Iran, wo Folter, öffentliches Erhängen und Steinigungen (akut ist die 43-jährige Sakineh Aschtiani bedroht) laut Menschenrechtlern regelmäßig vorkommen. Alle, von Talkshowmastern über stellvertretende ZDF-Chefredakteure bis hin zu Bundeskanzlerin und Bundespräsident, stemmten sich mit Macht gegen das Unheil.

Thilo Sarrazin

Der 464 Seiten dicke Wälzer des Sozialdemokraten und Bundesbankers mit dem apokalyptischen Titel "Deutschland schafft sich ab" hatte die politische Elite der Republik in einen bislang kaum gekannten hysterischen Aufruhr versetzt, der womöglich weniger einer Hexenjagd glich als einer Teufelsaustreibung. Denn die ungeheure Energie, die wie bei einem Vulkanausbruch flammend aus tiefsten Tiefen in die Höhe schoss, ist mit einer leidenschaftlichen Debatte über strittige, teils auch unhaltbare Thesen allein nicht mehr zu erklären.

Nun ist der Sündenbock, vorbehaltlich weiterer politischer und juristischer Entscheidungen, zumindest symbolisch einen Kopf kürzer gemacht, und plötzlich geht sie los, die Integrationsdebatte. Hieß es eben noch, das sei alles gar nichts Neues und man diskutiere schon seit vielen Jahren darüber, so überschlagen sich nun die Äußerungen aus allen Parteien über "Problemviertel", "strenggläubige Muslime" und "Integrationsverweigerung", der man konsequenter begegnen müsse.

Anne Will

"Sarrazin weg - Integrationsproblem gelöst? Die Stille nach dem Krawall". So versuchte am Ende einer geradezu historischen Woche eine Art Resümee der Staatsaffäre zu ziehen: "Was ist schiefgegangen?" Das erste Fazit allerdings, das sich dem Zuschauer offenbarte, lautete: Erschöpfung allenthalben. Man hatte sich in den vergangenen Tagen offensichtlich zu sehr verausgabt.

Klaus Wowereit

Besonders müde sah aus, Berlins Regierender Bürgermeister, dem Anne Will die eigentlich naheliegende Frage ersparte, warum er einen Rassisten und Menschenfeind sieben Jahre lang als Finanzsenator in seinem rot-roten Senat geduldet habe. Man rieb sich die Augen. Wo waren bloß Wut und Abscheu geblieben?

Klebrige Sprechblasen politischer Korrektheit

"Mit Thilo Sarrazin habe ich jahrelang gut zusammengearbeitet", stieß Wowereit blass hervor. Dennoch sei die Entscheidung, den Mann aus der SPD zu werfen, "unausweichlich", Stichwort "erschreckendes Menschenbild" und "kollektive Verunglimpfung".

Katrin Göring-Eckardt

schob noch den ebenso unausweichlichen Terminus "rassistische Äußerungen" hinterher. Ansonsten beschränkte sie sich auf jene klebrigen Sprechblasen der politischen Korrektheit, gegen die Kaugummi ein verlässlicher Baustoff ist: "Es ist Sorge da draußen im Land" oder "Ich finde Veränderung spannend".

Wolfgang Bosbach

Ohne (CDU), Vorsitzender des Innenausschusses im Deutschen Bundestag, und Norbert Bolz, Mediensoziologe, Autor und Philosoph, hätte die flagrante geistige Ermattung die ganze Sendung unter sich begraben. Bosbach, konservativ-liberaler Rheinländer, machte mit einer erstaunlich unzweideutigen Kritik an Kanzlerin Merkel und Präsident Wulff auf sich aufmerksam: Dies sei "keine politische Entscheidung", und die Unabhängigkeit der Bundesbank müsse peinlich gewahrt werden. "Umstrittene Persönlichkeiten", die den "Finger in die Wunde legen", sollten "ausgehalten" werden, und im Übrigen seien große Teile der Bevölkerung "offensichtlich unzufrieden mit der Integrationspolitik".

Die deutsch-türkische Soziologin und Autorin Necla Kelek ging noch weiter und kritisierte die "Sozialromantik" der politischen Klasse, die dem autoritär-patriarchalisch geprägten "System Islam" in Deutschland zu wenig Aufmerksamkeit schenke. "Was tun die Migranten eigentlich selbst?", fragte sie. "Über wen reden wir eigentlich?"

Offenbarungseid der politischen Klasse

Zwei Einspieler mit Zitaten der jüngst verstorbenen Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig sorgten für ein bisschen mehr Klarheit. In ihrem Buch "Das Ende der Geduld", seit Wochen auf Platz eins der Bestsellerlisten, hatte sie ebenso eindrucksvoll wie nüchtern die besonderen Schwierigkeiten mit Jugendlichen aus den notorischen Problembezirken wie Neukölln und Kreuzberg geschildert, in denen kriminelle Intensivtäter überwiegend aus Familien mit Migrationshintergrund stammen, allen voran türkischer und arabischer Herkunft.

Es blieb dem Soziologen Bolz vorbehalten, ein vorläufiges Resümee der Affäre zu ziehen. Gewiss, es gebe viele Parallelgesellschaften, sagte er, nicht zuletzt eine "Parallelgesellschaft Politik", die mit der Wirklichkeit im Lande nicht mehr viel zu tun habe. Die Auseinandersetzungen der vergangenen Tage seien ein wahrer "Offenbarungseid" der politischen Klasse gewesen, die durch ihren "ziemlich katastrophalen Umgang" mit der Causa Sarrazin einen "unglaublichen Druck" aufgebaut und "die Leute zum Narren gehalten" habe. Meinungsfreiheit heiße eben auch "Respekt vor Andersdenkenden".

Die ganze Angelegenheit sei ein "Geschichtszeichen", das eine neue Phase einleiten könnte. Dazu gehöre auch Widerstand gegen "die neuen Jakobiner", ob in der Politik oder in den Feuilletons. Man möchte hinzufügen: Fast schlimmer sind all jene, die viel reden und nichts sagen, all die politischen Opportunisten und Diskursfeiglinge, die immer erst dann "über die Sache" sprechen wollen, wenn sich der Pulverdampf verzogen hat.

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